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Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
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technische Fortschritte nicht nur Vorteile mit sich bringen, sondern auch Nachteile. Jetzt gibt es wiederum zwei Möglichkeiten. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass nur noch mehr Fortschritt die durch den Fortschritt erzeugten Probleme beheben kann. Die Zahl der Verkehrstoten sinkt dank Sicherheitsgurten, Airbags, elektronischer Fahrhilfen und Verkehrsleiteinrichtungen seit ihrem Höchststand in den siebziger Jahren kontinuierlich. Kläranlagen haben die Verschmutzung der Flüsse durch Industrieabwässer und Fäkalien [26] behoben, Rauchgasreinigungsanlagen und Katalysatoren die seit dem Mittelalter anhaltende Luftverschmutzung gelindert.
    Man kann sich aber auch auf den Standpunkt stellen, dass das Konzept Fortschritt das eigentliche Problem ist und noch mehr Fortschritt die Symptome nur auf ein anderes Gebiet verschieben wird. Oder das Problem sogar noch verschlimmert, weil man sich jetzt doppelt so schnell in die falsche Richtung bewegt. Bedenken aus der Frühzeit der Computereinführung gingen in diese Richtung: Der Computer verstärke die ohnehin schon vorhandene Tendenz, Mensch und Gesellschaft als eine Art Maschine zu betrachten.
     
    Selbst über der Frage, wozu der Fortschritt eigentlich gut sein soll, gehen die Meinungen auseinander. Rudolf Diesel, der Entwickler des gleichnamigen Motors, äußerte gegen Ende seines Lebens: «Es ist schön, so zu gestalten und zu erfinden, wie der Künstler gestaltet oder erfindet. Aber ob die Sache gar einen Zweck gehabt hat, ob die Menschen dadurch glücklicher geworden sind, das vermag ich heute nicht mehr zu entscheiden.» Der Glücksforschung zufolge sind die Bewohner von Industrieländern heute nicht glücklicher als vor fünfzig Jahren. Aber vielleicht ist es auch gar nicht die Aufgabe des Fortschritts, mehr Glück herbeizuführen. Vielleicht geht es darum, die Anzahl der Wahlmöglichkeiten zu vergrößern? Die vorhandenen Ressourcen besser auszunutzen oder gerechter zu verteilen? Mehr Wissen zu erlangen? Erst wenn man sich darauf geeinigt hat, was der Fortschritt eigentlich bezwecken soll, kann man sich der ihrerseits nicht unkomplexen Frage widmen, anhand welcher Kriterien man messen möchte, ob ein solcher Fortschritt stattfindet: Gestiegene Produktivität? Niedrigere Kindersterblichkeit? Ein längeres Leben? Oder eben doch das noch recht junge Bruttonationalglück [27] ? Solange man sich nicht darüber verständigt – und womöglich noch nicht einmal darüber nachgedacht – hat, wohin der Fortschritt führen soll, hat es wenig Sinn, zu diskutieren, ob eine bestimmte Entwicklung fortschrittlich ist oder nicht.
     
    Weil der Fortschrittsbegriff ein kompliziertes Ding ist, ergibt sich in den Debatten um das Internet keineswegs automatisch – etwa aus dem eigenen Wertesystem oder der Parteizugehörigkeit –, ob man für den Fortschritt ist oder dagegen und was das konkret bedeuten könnte. «Es ist wichtig zu verstehen», schrieb der Journalist Thierry Chervel Anfang 2012 im Online-Kulturmagazin
Perlentaucher
, «dass sich die Konfliktlinien in Internetdebatten durch alle politischen Richtungen ziehen. Es gibt Internetfeinde in der klassischen wie ökologischen Linken, bei den Liberalen und den Konservativen.» Das liegt zunächst einmal daran, dass «Internetfeinde» eine ähnlich vergröbernde Bezeichnung ist wie «Digital Immigrants». Das Internet hat viele Facetten, und die Anzahl derer, die es pauschal ablehnen, dürfte sich in Grenzen halten. Es liegt aber auch daran, dass in den Parteien weder intern noch untereinander Einigkeit darüber herrscht, wer momentan für den Fortschritt zuständig ist.
     
    Wenn man an eine Entwicklung der Welt vom Schlechteren zum Besseren glaubt, dann liegt es nahe, eine progressive Partei zu wählen, die diese Entwicklung beschleunigen möchte. Glaubt man hingegen an eine Entwicklung zum Schlechteren, lässt eine konservative Partei hoffen, dass diese Entwicklung aufgehalten oder umgekehrt werden kann. Es herrscht aber keine Einigkeit darüber, an welchen Stellen die Welt wodurch und in welcher Hinsicht gerade besser oder schlechter wird. Außerdem ist das Progressive von heute das Konservative von morgen. Ein heutiger CDU -Politiker mit handelsüblichen Ansichten darüber, was Frauen, Unverheiratete, Homosexuelle und Fabrikarbeiter alles dürfen sollten, wäre im 19 . Jahrhundert so fortschrittlich gewesen, dass man nach ihm einen Weltanschauungs-Ismus benannt hätte.
    Für das Bewahren allgemeingültiger

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