Internet – Segen oder Fluch
verdächtigt sie pauschal des Altseins. Freunde macht man sich auf diese Weise sowieso nicht, aber «Friss oder stirb» war noch nie ein Mittel, um irgendjemanden zu überzeugen. Genauer gesagt hat es sich als zweitkontraproduktivstes Argument überhaupt herausgestellt, übertroffen in seiner Wirkungslosigkeit nur noch durch den Vorwurf der völligen Ahnungslosigkeit.
Ebenfalls typisch für die Pro-Geschwindigkeits-Fraktion ist, dass die Veränderungen durch die Beschleunigung nicht etwa insgesamt geleugnet werden. Man erklärt stattdessen die Auswirkungen einfach für positiv. Das geht recht leicht, weil sich die Beschleunigung in vielen Bereichen tatsächlich günstig interpretieren lässt und die entsprechenden Effekte komfortablerweise viel leichter messbar sind als die von den Gegnern bemühten Veränderungen im Gehirn – die schließlich auch von Onanie herrühren könnten. Wissenschaft und vor allem Ingenieurwesen konzentrierten sich zu Beginn des 20 . Jahrhunderts auf effektivere und effizientere Produktionsverfahren für die Industrie. Spätestens seit Frederick Taylors Effizienzlehre war die Beschleunigung von Arbeitsprozessen fast gleichbedeutend mit Fortschritt. Der geschwindigkeitsfixierte Taylorismus führte zu ungeahnter industrieller Produktivität.
Schon vorher, in der fortschrittsfixierten Gründerzeit, war die Beschleunigung mit naiver Begeisterung beschrieben worden. In einem Text von 1865 aus dem «Stammbuch der neueren Verkehrsmittel. Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraphen und Luftschiffe» heißt es: «Auf unterirdischen Eisenbahnen reisen die Passagiere, durch die pneumatischen Tuben fliegen die Briefe und leichten Packete, auf elektrischen Drähten eilen die Menschengedanken mit Blitzesschnelle in alle Welt hinaus, während eiserne Schienennetze und schnelle Dampfer See und Land umspannen und verbinden. Das ist ein Stück Märchenpoesie der Industrie und der Eisenbahnen!» Hurra, alles wird immer schneller – solche Positionen sind allerdings gar nicht so sehr auf die tatsächliche Geschwindigkeit bezogen. Hier geht es vielmehr um das Aufbruchsgefühl, um den Eindruck, dass endlich etwas passiere. In einer Talkshow zum Phänomen «Illegale Autorennen» irgendwann in den 1990 er Jahren wurde ein junger Mann gefragt, warum er gerade in den Kurven so sehr beschleunige, dass die Reifen ausbrechen würden. «Dann spüre ich wirklich, dass ich lebe.» Diese simple Erkenntnis verbindet ihn mit einem der Begründer der modernen Wissenschaften, dem Mathematiker und Astronomen Johannes Kepler. Lange bevor die neuen Verkehrsmittel auch nur erahnbar gewesen wären, notierte er im Jahr 1606 , wie wunderbar der Buchdruck den Takt der Welt erhöht habe: «Ich glaube wirklich, dass die Welt jetzt erst wirklich lebt, dass sie geradezu rast.»
Es stehen sich also zwei Parteien gegenüber, die seit fünfhundert Jahren eine Beschleunigung spüren, aber diese Empfindung unterschiedlich interpretieren. Ist also auch in dieser Diskussion alles eine Frage des subjektiven Standpunktes? Könnte man annehmen, schließlich gehört die eingangs erwähnte Klage über die Beschleunigung der Welt ebenso zum festen Repertoire des modernen Kulturpessimisten wie Lamentos über Jugendkriminalität, allgemeine Verwahrlosung der Sitten und schlechte Sprache in Wort und Schrift.
Tatsächlich lautet die Antwort: Nein. Es ist eine objektive Beschleunigung messbar (bloß der ICE braucht seit 2011 von Berlin nach Hamburg wieder zwei Minuten länger als 1931 [7] . Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat 2005 in seinem Buch «Beschleunigung» den Wandel der Zeitstrukturen in der Moderne untersucht. Viele Indizien weisen darauf hin, dass die Beschleunigung nicht nur in der Einbildung von Leuten im fortgeschrittenen Alter stattfindet, sondern sich messen lässt, zum Beispiel in der Kultur: «In der Musik ist immer wieder beobachtet worden, wie sehr sich das Aufführungstempo klassischer Werke seit dem 19 . Jahrhundert beschleunigt habe – vergleicht man die durchschnittliche Spieldauer der Aufnahmen eines Werkes über die Jahrzehnte, so lassen sich ungeachtet einiger gezielt ‹entschleunigender› Gegenbewegungen tatsächlich eindeutige ‹Schrumpfungstendenzen› feststellen. Das Gleiche scheint für die Dialoggeschwindigkeit im Theater zu gelten, so berichtet Eriksen, die Aufführungsdauer von Ibsens ‹Rosmersholm› sei in weniger als einem Jahrhundert von vier auf unter zwei Stunden gesunken.»
Ein Phänomen aus der
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