Internet – Segen oder Fluch
will, dann muss eben mehr Polizei her, bezahlte Moderatoren sollen zwischen neun und achtzehn Uhr jeden einzelnen Kommentar kontrollieren, und die anonyme Teilnahme wird verboten. Vereinzelt gibt es immerhin Ansätze für zivilere Systeme, aber eine allgemein akzeptierte Lösung, die nicht nur kurzfristig für kleine, homogene Kreise funktioniert, ist bisher nicht in Sicht.
Insgesamt schrecken wir aus guten Gründen davor zurück, umstrittene Inhalte einfach abzuschaffen wie in Merciers Utopie. Auch wenn man sich damit begnügt, das Relevantere nach oben zu filtern und das weniger Hilfreiche weiter unten zu verstecken, werden nie alle mit dem Ergebnis glücklich sein – Relevanz liegt im Auge des Betrachters. Ein Teil der anstrengenden Vielfalt kommt durch unterschiedliche Interessen zustande. Wenn sich alle darüber einig wären, welche Sachverhalte wie dargestellt werden sollen, hätte schon vor dem Internet eine einzige Zeitung und ein einziges Nachschlagewerk genügt. Selbst wenn es möglich wäre, Unerwünschtes wegzufiltern, würde das nur zu vermehrten Klagen an einer anderen Internet-Diskussionsfront führen: Die kritische Stimme des Einzelnen, die Anliegen von Minderheiten, die Gegenöffentlichkeit gehe unter im Getöse der Mehrheit.
Einerseits verlangen wir, dass das Netz jedem eine Stimme geben und dafür sorgen soll, dass wir nicht nur diejenigen Nachrichten zur Kenntnis nehmen, die uns in den Kram passen. Andererseits sieht ebendieses breite Spektrum von Meinungen und Informationen einem Riesenhaufen schlecht sortierten Unfugs zum Verwechseln ähnlich. Es wird auch nicht besser, wenn man erklärt, andere Menschen dürften ja ruhig anderer Meinung sein, solange sie sie nur auf eine bestimmte Art vorbrächten. Denn für Diskussionskulturen und Argumentationsmuster gilt dasselbe wie für Inhalte: Es gibt sie in verschiedenen Geschmacksrichtungen, und die eigene ist nicht unbedingt das Maß aller Dinge.
Zusätzlich erschwert wird die Problematik durch das Sperrfeuer von Einzelinteressen, denn die decken sich nicht immer mit denen der Allgemeinheit. Unternehmen versuchen, durch Suchmaschinenoptimierung und Linkfarmen die Schwächen in Googles PageRank-System auszunutzen, Wissenschaftler bilden Zitierkartelle, Amazon-Anbieter schönen ihre Produktbewertungen, Prominente ihre Wikipedia-Einträge. Auch offensichtliche Regelverstöße werden nicht nur von gewissenlosen Schurken begangen. Dahinter steckt vielleicht lediglich der Glaube, ein bisschen Suchmaschinenoptimierung zugunsten des eigenen Unternehmens könne ja wohl der großen Googlesortierung der Welt keinen echten Schaden zufügen. Schließlich verträgt jedes robuste System ein paar Regelbrüche, und der Mensch ist nur eins von vielen Tieren mit ausgeprägtem Gespür dafür, mit wie vielen kleinen Vergehen zugunsten der eigenen Sippschaft man gerade noch ungestraft durchs Leben kommt.
Die Welt ist voll von Unnützem und Unfug, schlechtem Wetter, Wespen, den Zumutungen des Kunstbetriebs und Imbissbuden voll halbvertrockneter Käsebrötchen. Der Wunsch, das alles einfach abzuschaffen, beschäftigt jeden von Zeit zu Zeit. Aber derselbe Regen, der den Gartenfestgast ärgert, erfreut den Landwirt, und sogar Wespe und Kunstbetrieb erfüllen vermutlich irgendeine Funktion. Weise ist es daher, nicht die Abschaffung des Regens zu fordern, sondern sich unter ein Dach zu begeben. Genauso verhält es sich mit dem Unfug im Internet.
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10. Mehr Demokratie wegen
Von Digitaler Demokratie und Facebookrevolutionen
Verleser des Morgens: «Facebook startet eigenen Militärdienst.»
Clemens Aufderklamm/@herrklamm, Twitter, 16 . November 2010
Interessanterweise scheint beim Volk die Sorge um die politische Zurechnungsfähigkeit des Volkes recht populär zu sein. Ein wiederkehrendes Argument lautet: «Wenn das Volk direkt entscheiden dürfte, dann hätten wir doch übermorgen wieder die Todesstrafe!» Anschließend folgt die Vermutung, dass ein einzelnes scheußliches Verbrechen samt entsprechender Schlagzeile auf den Boulevard-Titelseiten dazu führen könnte, alle rechtsstaatlichen Prinzipien fallenzulassen.
Mit dem Internet ist in den letzten Jahren die Diskussion um eine direktere Beteiligung der Bürger an der Politik neu entflammt. Der Einzug der Piratenpartei in mehrere Landesparlamente hat eine deutlich sichtbare Verbindung zwischen Netz und aktiver Politik geschaffen. Alle großen Parteien mühen sich inzwischen, herauszufinden,
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