Internet – Segen oder Fluch
zu sehen.
Die Mutter aller Mitbestimmungsinstrumente, das Wahlrecht, war bis zum Beginn des 20 . Jahrhunderts Gegenstand ähnlicher Befürchtungen. Das Frauenwahlrecht führte nach Meinung seiner Gegner ohne Umweg in die Hölle. Die Wahlrechtsreformen in Großbritannien von 1867 schlossen weiterhin Frauen von der Wahl aus, weil es sonst nach Auffassung der Parlamentarier flächendeckend zu ehelichen Meinungsverschiedenheiten gekommen wäre; das wiederum hätte die Institution der Familie gefährdet. Ein Schweizer Plakat von 1927 gegen das Frauenwahlrecht ist überschrieben mit «Die Mutter treibt Politik!». Darunter sieht man ein aus der Wiege gefallenes, schreiendes Kind, ein stürmischer Wind fährt durch das aufgestoßene Fenster. In der Wiege sitzt eine schwarze Katze mit glimmenden Augen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in vielen europäischen Staaten das Frauenwahlrecht eingeführt. Selbst die Schweiz kam nach einem sorgfältigen, fünfzigjährigen Abwägungsprozess zu dem Schluss, dass nicht der sofortige Untergang drohe, oder zumindest nicht
deshalb
.
Diese Hintergründe sind für die Diskussion um digitale Mitbestimmung wichtig. Mit dem Internet ist ein Instrument entstanden, das technisch neue Spielformen der Demokratie ermöglichen könnte. Es ist keine theoretische Frage mehr, ob man das Volk direkt in politische Diskussionen miteinbeziehen kann, sondern eine reale Möglichkeit. Sie wird von den Piraten offensiv politisch vorangetrieben und zwingt die Vertreter klassischer Parteien dazu, sich mit der Einmischung des Volkes in die Demokratie auseinanderzusetzen. Ab und zu funkelt dabei das Misstrauen durch. Die politische Auffassung der Piratenpartei sei «manchmal so stark von der Tyrannei der Masse geprägt, dass ich mir das als Liberaler nicht wünsche, dass dieses Politikbild sich durchsetzt», sagte der FDP -Generalsekretär Patrick Döring im März 2012 bei der Nachbesprechung der Landtagswahl im Saarland. Die eher piratenfreundliche und empörungsaffine Twittergemeinschaft empörte sich. André Krüger, auf Twitter @bosch, fasste den Tenor der mehreren tausend Tweets zusammen: «Für FDP -Generalsekretär Döring ist es die ‹Tyrannei der Masse›. Alle anderen nennen es Demokratie.»
Jaron Lanier beschrieb 2006 in dem Aufsatz «Digitaler Maoismus» seine Sorge um den im Netz neu aufflammenden Glauben an den Kollektivismus. Er zog eine Parallele zwischen dem Netzkollektivismus und kollektiven Politdesastern wie dem Faschismus, dem Maoismus und religiösen Diktaturen und fragte: «Warum gibt es keinen allgemeinen Aufschrei über die derzeitige Epidemie von Kollektiveinsätzen [60] da, wo sie nichts verloren haben? Ich glaube, es liegt daran, dass schlechte alte Ideen verwirrend frisch daherkommen, wenn man sie in Technologie verpackt.»
Ob dem Volk zu trauen sei oder nicht, ist in einer Demokratie auch eine Frage nach Kleinteiligkeit und Entscheidungstiefe. Es dürfte eher nicht sinnvoll sein, wenn zu jeder Neubepflanzung des Fahrbahnmittelstreifens eine Volksabstimmung über die Blumensorte gestartet wird. Eine Volkswirtschaft dagegen mit zwei Billionen Euro auf dreißig Jahre schwer zu verschulden, ohne vorher mal nachgefragt zu haben, weil zufällig keine Wahlen anstehen, erscheint ebenfalls mäßig geschickt. Es muss ein geeigneter Weg gefunden werden, denn, wie Boris Palmer im erwähnten Artikel anmerkt, «die große Mehrheit der Menschen will noch anderes tun, als den lieben Tag lang zu politisieren und abzustimmen». Die weitere Demokratisierung der Demokratie bleibt deshalb vorläufig ein Trial-and-Error-Experiment. Das scheint sie mit der Entwicklung sämtlicher anderer Staatsformen allerdings gemein zu haben.
Was das Vertrauen in das Volk angeht, könnten sich die Möglichkeiten des Internets als Wasserscheide erweisen. Das Netz zwingt die Staaten dazu, ihre Version der repräsentativen Demokratie zu verändern, sodass sich am Ende zwei demokratische Lager entwickeln könnten: diejenigen, die dem Volk eingeschränkt und nur durch Repräsentanten gefiltert vertrauen. Und diejenigen, die dem Volk weitestgehend vertrauen, auch ohne Filter und Mittelsmänner. Dabei geht es weniger um das Ende der repräsentativen Demokratie als um die Art der Repräsentation, und der Unterschied zwischen umfassendem Generalvertrauen und halbem Vertrauen mit angezogener Handbremse reicht für erbitterte Diskussionen völlig aus.
Die Frontlinien dieser Debatte werden in Deutschland vermutlich
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