Internet – Segen oder Fluch
Büchern, Filmen oder Musik oder Googles PageRank-Verfahren messen indirekt die Meinung der Konsumenten. Auf solchen passiven Nutzerbewertungen beruht auch der im vorigen Kapitel besprochene
impact factor
in der Wissenschaft. Er besagt nichts anderes als «Die in dieser Zeitschrift erscheinenden Beiträge wurden in den vergangenen zwei Jahren von überdurchschnittlich vielen Forschern für relevant gehalten». Der IF war zu seiner Zeit ein Fortschritt, inzwischen sind aber auch viele Schwächen an den Tag getreten. Achtzig Prozent des Ergebnisses gehen auf nur zwanzig Prozent der in einer Zeitschrift erschienenen Beiträge zurück, das Messverfahren ist intransparent und liegt in den Händen eines privaten Unternehmens, Forscher und Herausgeber haben gelernt, die Lücken des Systems zu ihren Gunsten zu nutzen, und über die Nützlichkeit einzelner Beiträge sagt der IF überhaupt nichts aus.
In der Wissenschaft herrscht derselbe Trend wie im Rest der Welt, bei Bedarf den Links zu Artikeln zu folgen, anstatt einmal im Monat eine ganze Zeitschrift durchzublättern. Daher wäre es schön, wenn man auch messen könnte, inwieweit ein einzelner Beitrag von den Lesern als nützlich empfunden wird. Zitate sind dabei keine Hilfe, denn wie beim IF wüsste man dann erst nach mehreren Jahren, ob es sich lohnt, einen bestimmten Artikel zu lesen. Passive Nutzerbewertungen dienen heute aber wenigstens stellenweise schon zur Orientierung: Das
British Medical Journal
veröffentlicht seit 2004 , wie oft Artikel im Netz angesehen wurden, ebenso wie seit 2009 alle Zeitschriften aus der «Public Library of Science ( PL oS)»-Reihe. Das
Journal of Medical Internet Research
zeigt seit 2008 auch an, wie oft ein Artikel bei Twitter erwähnt wird, und diese Zahl erwies sich als so zuverlässige Vorhersage der späteren Zitierhäufigkeit, dass der deutsche Forscher Gunther Eysenbach 2011 analog zum
impact factor
den
twimpact factor
vorschlug.
Fortschritte gab es auch an vielen Orten im Netz, wo Nutzer Fragen stellen und andere Nutzer antworten. Lange Zeit dominierten hier Angebote, in denen Frage und Antworten (oder Kommentare) chronologisch aufeinanderfolgen. Gelangt man aus den Ergebnissen einer Suchmaschine auf eine solche Seite, stößt man dort oft nicht auf die gesuchte Antwort, sondern landet auf der fünfzehnten von dreißig Seiten einer Diskussion, die Abschweifungen, schlechte Antworten und Witze über die schlechten Antworten enthält – alles, nur kein hilfreiches Ergebnis. Das änderte sich zumindest für den englischsprachigen Raum 2008 mit stackoverflow.com und 2010 mit quora.com . Beide Seiten spülen dank verbesserter Moderations-, Bewertungs- und Kommentarsysteme gute Antworten zuverlässiger als ihre Vorläufer nach oben.
Auch 2012 ist das Problem des Unfugredens in Diskussionen online noch ungelöster als offline. Bis vor wenigen Jahren gab die Anzahl der Sitzplätze an Kneipentischen die Größe von Diskussionen vor. Im Netz können sich im Prinzip beliebig viele Menschen schriftlich an Debatten beteiligen. Die Annahme vieler Zeitungen, ihre hochintelligenten Leser würden, sich selbst überlassen, ganz von allein hochintelligente Gespräche führen, erwies sich schnell als Irrglaube. Die Leserkommentarseiten von Printmedien gehören zu den undurchdringlichsten Unfugsurwäldern im Netz. Mit den möglichen Begründungen, warum das so ist, ließe sich ein eigenes Buchkapitel füllen [49] .
Sehr kurz zusammengefasst gehört zu den Hauptproblemen der Glaube, zivilisiertes Kommunikationsverhalten stelle sich von alleine ein, wenn man nur die richtigen Nutzer hereinlässt und die falschen draußen hält. In den meisten Lebensbereichen hat die Menschheit Hilfsmittel entwickelt, die so wenig Druck wie möglich und so viel wie nötig ausüben, um eine kritische Masse zum erwünschten Verhalten zu bewegen. Zum Teil sind diese Hilfsmittel technischer Natur wie das Türschloss oder die Straßenmarkierung. Zum Teil sind es Konventionen, zu deren Erhaltung es genügt, hin und wieder die Stirn zu runzeln, wenn jemand dagegen verstößt. Und zum Teil sind es hochkomplexe soziale Organisationssysteme wie die parlamentarische Demokratie.
Im Vergleich dazu funktionieren viele Diskussionsorte im Netz wie eine Art steinzeitlicher Polizeistaat. Der Betreiber erwartet, dass alle Anwesenden sich ganz von allein gut benehmen, und wenn nicht, kommt der Schutzmann und löscht den Beitrag. Wenn sich partout keine Kommentarkultur einstellen
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