Internet – Segen oder Fluch
was eigentlich los ist. Im Netz und auch ganz allgemein. Der Streit um die politische Kraft des Internets hat vordergründig viele Fronten: Was bringt das Netz Neues in die Politik ein? Erweitert, ergänzt, ersetzt es den Diskurs und den politischen Aktivismus? Ermöglicht es neue Formen der Mitbestimmung, läutet es gar das Ende der repräsentativen Demokratie ein? Wenn ja, wie? Wenn nein, was dann? Wo liegen Chancen, wo liegen Gefahren, und welche Chancen muss man als Gefahr begreifen? Hinter den Kulissen aus Wahlkampf-Pappmaché und Bürgernähe-Phrasen aber schnurrt die vielschichtige Diskussion zusammen auf einen Kern aus drei eng zusammenhängenden Fragen:
Kann man dem Volk über den Weg trauen?
Kann man dem Netz über den Weg trauen?
Und schließlich: Was ist und was kann Digitale Demokratie?
Kann man dem Volk über den Weg trauen?
Eigentlich ist es ein bisschen spät, diese Frage überhaupt zu stellen, Demokratie heißt schließlich Volksherrschaft. Jeder dritte Bürger [11] glaubt jedoch, dass die anderen beiden möglichst keine konkreten Entscheidungen treffen sollten. In Administration und Politik sieht es ähnlich aus: Das Institut Forsa fand 2011 heraus, dass in den Verwaltungen der Bundesrepublik rund vierzig Prozent der dort Bediensteten Volksentscheide für nicht sinnvoll halten. Das ist keine besonders große Mehrheit für das Vertrauen in die Mehrheit. Der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, Jahrgang 1972 , schrieb im Mai 2012 in der ZEIT einen Essay über die große Gefahr, die die Piratenpartei darstelle: «Die Piraten sind so gefährlich, weil sie bewährten und funktionierenden Verfahren die Legitimation absprechen und an deren Stelle eine Illusion setzen, die nicht funktionieren kann.» Mit «Illusion» meint Palmer die «Basisdemokratie 2 . 0 », die bei den Piraten mit Hilfe der Diskussions-Software Liquid Feedback im Netz stattfinden soll. Gleichzeitig erklärt er Basisdemokratie insgesamt für gescheitert: «Sie endet spätestens, wenn die Koalitionsverhandlungen beginnen», alles andere funktioniere nicht. Man wäre nicht überrascht, wenn Palmer noch angefügt hätte: «Die Demokratisierung der Gesellschaft ist der Beginn der Anarchie, das Ende der wahren Demokratie. Wenn die Demokratisierung weit genug fortgeschritten ist, dann endet sie im kommunistischen Zwangsstaat.» Allerdings stammten diese Worte von Franz Josef Strauß, veröffentlicht im Januar 1978 im
Sonntagsblatt
(mit Demokratisierung wurde damals Mitbestimmung durch das Volk bezeichnet).
Irgendwie hat sich im politischen Apparat die Gewohnheit durchgesetzt, den Wähler als eine Art launischen, nicht immer zurechnungsfähigen Souverän zu betrachten, der gar nicht so genau weiß, was gut für ihn ist. Palmers Ansichten sind auch deshalb interessant, weil sich die Grünen in ihrer Gründungsphase explizit zur basisdemokratischen Politik bekannten. In der Präambel des grünen Parteiprogramms von 1980 heißt es: «Unsere Politik wird von langfristigen Zukunftsaspekten geleitet und orientiert sich an vier Grundsätzen: sie ist ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei.»
Der Erfolg der Piratenpartei Ende 2011 und Anfang 2012 ist eng mit der Mitbestimmung des Volkes verbunden: Bei einer Befragung von 2178 Parteimitgliedern im Frühjahr 2011 sahen weniger als neun Prozent der Piraten die repräsentative Demokratie als die geeignetste Form an, den Volkswillen durchzusetzen. Über neunzig Prozent sprachen sich für eine stärkere Einbindung der Bürger durch eine plebiszitäre oder direkte Demokratie aus. Die Wähler der Partei äußern sich ähnlich. Eine Ursache des Piratenerfolgs könnte demnach die Unzufriedenheit darüber sein, dass viele Politiker dem Volk direkte Entscheidungen nur mäßig gern anvertrauen.
Dafür liegen speziell in Deutschland natürlich auch historische Gründe nahe. Aber die Haltung, der Masse grundsätzlich zu misstrauen, ist klassisch konservativ. 1895 erklärte der Begründer der Massenpsychologie, Gustave Le Bon, in seinem Hauptwerk «Die Psychologie der Massen», dass die Vielen eigentlich ein Haufen unzurechnungsfähiger, blindwütiger Dummköpfe seien: «Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung.» Diese reaktionären Argumentationen drücken das gleiche Unwohlsein mit dem Verhalten von Großkollektiven aus, das Franz Josef Strauß dazu verleitete, in der Mitbestimmung des Volkes den Untergang des Abendlandes
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