Internet – Segen oder Fluch
zwischen den Piraten, den Grünen, der Linken, Teilen der SPD und Spurenelementen der FDP auf der einen Seite und CDU , CSU , den restlichen Teilen von SPD und FDP auf der anderen Seite verlaufen. Bei diesem Block handelt es sich um exakt diejenigen, deren parteidemokratische Strukturen Nachkriegsdeutschland sicher und solide, aber auch unflexibel und bürgerfern haben werden lassen. Die Politik also, die monatelange, erbitterte Verhandlungen um die Pendlerpauschale als höchste staatsmännische Kunst betrachtet. Deren Effekt wiederum war jene Politik- und Parteienverdrossenheit, die heute der Piratenpartei ihren Auftrieb beschert. Die Frage nach einer besseren Demokratie durch das Internet dreht sich aber nicht nur um das fehlende oder unendliche Vertrauen in die Weisheit des Kollektivs. Es geht auch darum, ob das Netz überhaupt politisch eingesetzt werden kann oder sollte.
Kann man dem Netz über den Weg trauen?
Unter Netzaffinen scheint die Annahme verbreitet, dass mit dem Internet die Demokratie direkter und damit irgendwie auch besser würde. In der Piratenpartei wird zwar diskutiert, wie sehr die Diskussionssoftware Liquid Feedback die Politik der Partei gestalten sollte – aber kaum, ob überhaupt. Das ist erstaunlich, weil der Erfahrungshorizont im Netz sozialisierter Personen hier zumindest zarte Zweifel wecken könnte. Große Communitys, auch und gerade unkommerzielle, sind häufig alles andere als basisdemokratisch organisiert. Die offene Online-Enzyklopädie Wikipedia gilt als Vorzeigebeispiel der Weisheit der Vielen und der großen Produktivität der Masse. Aber das Wikipedia-Reich ist eine klare Meritokratie, in der die Macht letztlich in den Händen der eifrigsten Wikipedianer liegt. Ein
FAZ
-Artikel über eine Wikipedia-Tagung im September 2010 war mit der Quintessenz der Tagung überschrieben: «Einst basisdemokratisch, jetzt ein exklusiver Club». Noch fehlen die Beispiele, in denen große Gemeinschaften mit dem Internet dauerhaft basisdemokratisch umgehen. Unklar ist, ob das daran liegt, dass das Netz und die sozialen Medien noch zu neu sind, oder ob Technologie vielleicht doch nicht so umfassend zur Verbesserung demokratischer Strukturen taugt. Oder ob eine netzvermittelte Basisdemokratie nur mit erheblichen Reibungsverlusten funktioniert, deren Energieaufwand die Vorteile wieder auffrisst. Meritokratien und Diktaturen sind im Netz (und außerhalb) einfach bequemer, weil sich ein größerer Teil der Nutzer zurücklehnen und sich der Erdbeerernte, Mikadoturnieren oder der Wühlmausjagd widmen kann.
Das Fehlen funktionierender politischer Modelle im Netz hindert jedoch nicht einmal Politiker traditioneller Bauart daran, die Wirkung des Internets fast euphorisch zu begrüßen. Jedenfalls im Prinzip. Vor dem G 8 -Gipfel im Mai 2011 veranstaltete der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy eine Art Internet-Gipfel namens «e G 8 -Forum». In der Eröffnungsrede begeisterte sich der Mann, der nach Ansicht französischer Aktivisten großen Netzflurschaden [61] angerichtet hatte: «In nur wenigen Jahren hat das Internet die Träume der Philosophen der Aufklärung verwirklicht und unser gesammeltes Wissen dem größten nur denkbaren Publikum zugänglich gemacht. Demokratie und Menschenrechte wurden gestärkt, Staaten zu größerer Transparenz angehalten, und in einigen Ländern konnten die Unterdrückten ihre Stimmen erheben, um gemeinsam im Namen der Freiheit zu handeln.» Ob blumige Worte zur Selbstinszenierung, echte Überzeugung oder beides – Sarkozy fasst zusammen, was so oder ähnlich jeder zweite demokratische Außenminister schon einmal zur Ermahnung anderer Länder von sich gegeben hat. Dahinter steckt, im Prinzip ähnlich wie bei der Piratenpartei, die Ansicht, dass das Netz demokratisierend und freiheitsstärkend wirkt, wenn man es bloß richtig einsetzt.
Die Idee, dass Informationstechnologie der Welt Freiheit und Demokratie bringen werde, ist nicht erst mit dem Internet entstanden. Bertolt Brecht hielt 1932 eine Rede mit dem Titel «Der Rundfunk als Kommunikationsapparat», die später die Grundlage für die Brecht’sche Radiotheorie darstellen sollte und in der er über die gesellschaftsverändernde Wirkung eines Radiosystems nachdenkt. Die Bedingung dafür sei aber, dass die Radiogeräte gleichzeitig Sender und Empfänger wären – also ihre Vernetzung. Brecht nimmt damit nicht nur eine wesentliche Funktion des Internets vorweg. Er glaubt auch, dass diese technische
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