Internet – Segen oder Fluch
verstört: «Das ist ethisch unterste Schublade!» Wenig später hatten drei Dutzend Bundesstaaten Internet-Jagen verboten. Kalifornien verbot in einem Aufwasch gleich noch das Internet-Angeln mit.
Sowohl die Einschätzung der
FAZ
als auch das staatliche Verbot erscheint auf den ersten Blick nachvollziehbar, ja beinahe zwingend. Der Kommentar des Jägers dagegen irritiert ein wenig – und wenn man sich auf diese Irritation einlässt, hat man das Phänomen des Internet Exceptionalism schon fast verstanden. Denn der Unterschied zwischen dem Schuss per Mausklick oder per gedrückten Abzug ist nicht einfach zu benennen. In beiden Fällen liegt am Ende ein totes Tier da, in beiden Fällen schießt ein Mensch aus der Ferne eine Patrone ab. Natürlich ließen sich Erwägungen über die Virtualisierung und die zu große Einfachheit des Tötens diskutieren, aber das war in der Debatte nicht der entscheidende Punkt. Ausschlaggebend war: Für die meisten Leute, Politiker eingeschlossen, fühlt sich Internet-Jagd wie etwas völlig anderes an als Jagd. Diese Haltung – das Internet sei etwas völlig anderes als der Rest der Welt und müsse deshalb auch anders behandelt werden – ist der Kern des Internet Exceptionalism.
Das Bewusstsein, im Internet herrsche im Unterschied zur Kohlenstoffwelt ein freier, offener und quasianarchischer Urzustand, hat sich seit Mitte der 1990 er Jahre verbreitet. Sein Apologet war John Perry Barlow, ehemaliger Songtexter der Band Grateful Dead und Mitgründer der Internet-Bürgerrechtsvereinigung Electronic Frontiers Foundation. Er verlas 1996 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos die «Deklaration der Unabhängigkeit des Cyberspace». Nach einer kurzen, empörten Vorrede über ein US -Gesetz, das Barlow als «Kriegserklärung gegen das Internet» empfand, folgte eine pathossatte Erklärung, weshalb die Einwohner des Internets nicht den starren Regeln der «müden Riesen aus Fleisch und Stahl», also der traditionellen Staaten der Welt, folgen müssten. «… ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Auftrag der Zukunft fordere ich euch, die ihr aus der Vergangenheit seid, auf, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid uns nicht willkommen. Ihr habt dort, wo wir uns versammeln, keine Souveränität. (…) Der Cyberspace liegt nicht innerhalb eurer Grenzen, glaubt nicht, dass ihr ihn verwalten könnt wie ein öffentliches Bauprojekt. Ihr könnt es nicht. Es handelt sich um einen natürlichen Vorgang, in dem der Cyberspace von selber durch unsere kollektiven Aktionen wächst. (…) Wir schaffen unsere eigenen sozialen Regeln. Diese Herrschaft wird sich nach den Bedingungen unserer Welt erheben, nicht nach der euren. Unsere Welt ist anders. (…) Eure rechtlichen Konzepte von Eigentum, Meinung, Identität, Bewegung und Kontext betreffen uns nicht. Denn sie basieren auf Materie, und hier gibt es keine Materie.»
Überraschenderweise gibt es die Auffassung, das Internet müsse besonders behandelt werden, sowohl unter Netzbegeisterten wie auch unter Netzskeptikern. In Kapitel 13 findet sich auch eine Form des Internet Exceptionalism, nämlich die Auffassung, dass Freundschaften im Netz im Vergleich zu «richtigen» Freundschaften außerhalb nichts zählten. Bei der Regulierung unterscheiden sich die positiven und die negativen Exzeptionalisten lediglich in der Perspektive: Kann und soll das Netz strenger reguliert werden als die nichtvirtuelle Welt – oder weniger streng?
Probleme mit der Internetregulierung ergeben sich, weil die Macht des Staates auf der Kontrolle und Durchsetzbarkeit seiner Regeln beruht – aber die digitale Welt eine Art exterritoriales Gebiet darstellt. Die von Kontroll-Hardlinern (und Leuten, die nicht wissen, dass sie Kontroll-Hardliner sind) oft mahnend verwendete Phrase «Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein!» beweist ja gerade, dass die Macht eines Staates über das Netz begrenzt ist. Mit dem Staat und dem Internet prallen zwei sehr unterschiedliche Strukturen zusammen: hierarchisch gegen nichthierarchisch, territorial gegen nichtterritorial, zentral und kontrollbasiert gegen dezentral und digital vernetzt. Die herkömmlichen staatlichen Strukturen sind territorial fixiert, weshalb sie im Internet nicht greifen, weil ein von Deutschland aus angesprochener Server überall auf der Welt stehen kann. Es ist oft nicht leicht zu sagen, wo genau die digitalen Daten gespeichert sind und wer letztlich dafür verantwortlich ist. Der Regelungswillen der
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