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Internet – Segen oder Fluch

Internet – Segen oder Fluch

Titel: Internet – Segen oder Fluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Sascha Lobo
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Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland findet die Strafbarkeit der Holocaustleugnung richtig; in den USA würde die gesetzliche Ahndung solcher Äußerungen als Zensur gewertet. Selbst in vergleichsweise liberalen islamischen Staaten, in denen Zensur im Allgemeinen so verpönt ist wie in westlichen Ländern, bildet die Diffamierung des Propheten Mohammed eine Ausnahme. Die Frage, ob die Sanktion einer Äußerung Zensur darstelle oder nicht, ist also eine moralische – und dadurch werden die Grenzen fließend.
    Auch die Instrumente der Zensur sind nicht immer eindeutig zu bestimmen. Das wirksamste Instrument zur Unterdrückung von Informationen und damit zur Zensur ist keine Hardware oder Software, sondern heißt immer noch Angst. Und damit ist nicht nur die Angst vor Folter, Repression, Waffengewalt gemeint. Auch die Angst vor Abmahngebühren oder Bußgeldern bei versehentlich begangenen Ordnungswidrigkeiten kann schon im Kopf zensierend wirken, wenn man etwa weiß, dass Verstöße im Bereich Jugendschutz mit bis zu 50 000  Euro bestraft werden können.
    Je krasser die moralische Dimension des Inhalts, umso schwieriger wird es, rationale Kriterien bei der Bewertung anzuwenden. Die allermeisten Leute würden die Tilgung kinderpornographischer Inhalte nicht als Zensur, sondern als Schutzmaßnahme begreifen. Diese Eindeutigkeit schwindet, wenn juristisch Erwachsene, die sehr jung aussehen, pornographisch gezeigt werden. Oder bei gezeichneter Kinderpornographie, die zwar in Deutschland ebenfalls verboten ist, bei der aber im Zweifelsfall letztlich der (richterlich beurteilte) Anschein entscheidet, der bekanntlich subjektiv ist. Im speziellen Fall der Kinderpornographie lässt sich auch ein gesellschaftlicher Wandel beobachten. Der italienische Spielfilm «Spielen wir Liebe» lief 1977 in Deutschland ohne Aufschrei und ohne juristische Probleme in den Kinos. Seit 2006 wird der Film als Kinderpornographie von der Polizei beschlagnahmt, die Veröffentlichung ist verboten. Mit solchen moralisch-gesetzlichen Entwicklungen ändert sich immer auch die Grenze zwischen akzeptierter Beschränkung von Inhalten und Zensur.
    Noch komplizierter wird es, wenn man die Gesetze als Kriterium der Unterscheidung nicht akzeptiert. Das mag sich in den Ohren des selbstredend rechtschaffenen Bürgers steil anhören und innerhalb Deutschlands kaum eine Rolle spielen – wird aber im internationalen Vergleich schnell relevant. Staaten wie China oder Iran behaupten offiziell, dass sie in ihren Freiheitsbeschränkungen nur die Gesetze ihres Landes durchsetzen. Was zwar technisch stimmen mag, aber etwa aus europäischer Perspektive trotzdem Zensur ist. Wenn man also in öffentlichen Diskussionen von Zensur spricht,
muss
man sich auf die ethisch-moralische Dimension beziehen, da die gesetzliche nur begrenzt hilfreich ist. Häufig wird zwar unterschieden zwischen «Vorzensur», also der Verhinderung der Veröffentlichung, und der «Nachzensur», also der Sanktionierung der Veröffentlichung. Aber die Grenzen fließen auch hier. Die von vielen als Zensurmöglichkeit interpretierten Netzsperren könnten ausschließlich zur Nachzensur dienen. Auch die Hilfskräfte in China, die durch das Netz streifen und bestimmte Inhalte löschen lassen, müssen als Zensoren gelten. Die Filterung von Google-Ergebnissen ist ebenfalls eine Nachzensur, die von den meisten Leuten hierzulande als echte Zensur empfunden wird. Jedenfalls, wenn sie in China stattfindet. Jede von irgendwem als legitim empfundene Löschung von Inhalten lässt sich von der anderen Seite als Zensur deuten.
    Die Frage, wo genau und wie Zensur beginnt, ist in vielen netzpolitischen Diskussionen essenziell. So etwa auch in der kurzen, aber heftigen Debatte um die (gescheiterte) Novellierung des Jugendschutzgesetzes 2010 . Immer wieder taucht aufseiten der Netzaktivisten und der Presse der Vorwurf auf, die Politik würde eine «Zensurinfrastruktur» aufbauen. Die Problematik dieses Begriffs ist direkt mit dem Verständnis des Zensurbegriffs verbunden. Grundsätzlich kann jede technische Möglichkeit, Inhalte zu löschen, als Zensurinfrastruktur bezeichnet werden. Allerdings gibt es zentralisierte, schwer überprüfbare Technologien, die die Entfernung von Inhalten besonders leicht machen und gegenüber denen deshalb mehr Misstrauen durchaus gerechtfertigt ist.
    Eine Art zensorisches Paradoxon ergibt sich aus der Tatsache, dass die handelsübliche Zensur intransparent sein
muss
– aber genau

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