Internet – Segen oder Fluch
Politik lässt sich im Netz deshalb nicht so weitgehend durchsetzen wie außerhalb. Viele Schwierigkeiten der deutschen Netzpolitik ergeben sich daraus, dass die Politik versucht, irgendwie doch zu kontrollieren, was sich ihrem Einfluss im Grunde entzieht.
Das bekannteste deutsche Irgendwie war das Zugangserschwerungsgesetz, das die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen 2009 vorstellte, die berüchtigten Netzsperren. Die große Koalition aus CDU und SPD wollte damit vor allem die Verbreitung von Kinderpornographie bekämpfen. Nach Argumentation des Bundeskriminalamtes sei es nur schwer möglich, kinderpornographische Seiten komplett aus dem Netz zu löschen, wenn die entsprechenden Server in kooperationsunwilligen oder -unfähigen Ländern stünden. Das Gesetz sah deshalb vor, die deutschen Internet-Provider zur Sperrung solcher Seiten zu verpflichten, unabhängig von einer eventuellen Löschung.
Die Kritiker des Gesetzes – große Teile der Opposition und die Mehrheit der Netzaktivisten – sahen die Gefahr, dass diese Sperrstruktur auch zur Zensur eingesetzt werden könne. In Ländern wie Dänemark oder Australien waren durch ähnliche Filtersysteme sowohl politische Seiten gesperrt worden als auch solche, die zum Beispiel im urheberrechtlichen Graubereich operierten. Abgesehen davon hätten halbwegs Sachkundige die Netzsperren spielend aushebeln können. In einem nicht mal einminütigen YouTube-Film wurde die Umgehungstechnik selbst für Laien verständlich erklärt. Einem späteren Interview mit Wolfgang Schäuble konnte man entnehmen, dass von der Leyen das Thema ursprünglich als schnellen PR -Sieg aus Wahlkampfgründen im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 betrachtet haben soll; wer könnte schon etwas gegen den Kampf gegen Kinderpornographie haben? Die Netzsperrendebatte wurde ziemlich genau zum Gegenteil eines schnellen PR -Sieges.
Der bevorstehende Wahlkampf verlieh der Diskussion aber einen Sound mit entlarvender Wirkung. Die Argumente wurden nämlich noch stärker zugespitzt als ohnehin üblich, zuerst aufseiten der Netzsperrenbefürworter, dann auch aufseiten der Gegner. Schließlich standen sich zwei Lager gegenüber, die einander wechselseitig als Kinderpornobefürworter beziehungsweise totalitäre Zensurfreunde diffamierten und die jeweiligen Bedenken der Gegenseite als nichtig oder monströs abtaten. Kurz dachte man, hier wäre das lange gesuchte Schrillheitsmaximum der deutschen Politik erreicht.
Als schädlich erwies sich besonders die Moralfixierung der Debatte: Der Austausch moralischer Implikationen verhinderte jede inhaltliche, konstruktive Arbeit und diente eher den Medien, als zu einer politischen Lösung zu führen. Bei «So denken Sie doch an die Kinder!» gegen «Sie zerstören den Rechtsstaat!» kann es keine Sieger geben, denn Moral ist immer eine kompromisslose, schwarz-weiße Angelegenheit, und ein bisschen moralisch ist wie ein bisschen schwanger.
Als die Netzsperrendebatte vorüber war, ließen sich, gesäubert vom Schlamm der Schlacht, zwei gegensätzliche Positionen erkennen. Sie leiten sich unmittelbar aus der Kombination der technischen Organisation des Internets mit dem Internet Exceptionalism ab. Die Befürworter von Netzsperren mochten sich nicht damit abfinden, dass es wegen der offenen Struktur und Internationalität des Netzes in vielen Fällen keine direkte oder simple Eingriffsmöglichkeit für den deutschen Staat gibt. Ebenso wenig mochten sie akzeptieren, dass das Internet anders behandelt werden soll als andere Medien, weshalb immer wieder verbotene Inhalte auf DVD oder Videokassetten [69] als Vergleich bemüht wurden.
Für die Ablehner von Netzsperren war die Erhaltung der Netzstruktur wichtiger als die einhundertprozentige Durchsetzung der bestehenden Gesetze. Man müsse die Mittel anwenden, die auf netzerhaltendem Weg einsetzbar seien, und sich mit Schlupflöchern abfinden. «Löschen statt sperren» war der Slogan der Sperrengegner. Eine vergleichbar simple Antwort auf die Frage, was mit Servern zu geschehen habe, deren Verantwortliche man nicht zum Löschen bewegen könne, gab es nicht (auch wenn nach qualifizierten Schätzungen weit über neunzig Prozent der beanstandeten Seiten gelöscht werden können).
«In dubio pro reo», im Zweifel für den Angeklagten, lautet einer der wichtigsten Rechtsgrundsätze aus dem alten Rom, denn gerade Zweifelsfälle sind entscheidend. Im Streit um die Netzsperren lässt er sich in zweierlei Art auslegen: Im
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