Internet – Segen oder Fluch
dadurch allergrößtes Interesse hervorruft. In Zeiten von Wikileaks würde man auf die langfristige Geheimhaltbarkeit wovon auch immer ungern größere Summen wetten wollen. Eine transparente, öffentliche Liste zu zensierender Websites aber hätte den genau gegenteiligen Effekt der gewünschten Informationsunterdrückung. Wenn der Bundesregierung einmal der Sinn nach mehr Traffic stehen sollte, dann müsste sie einfach monatliche Zensurlisten veröffentlichen – zum Beispiel die in Deutschland geführten, einigermaßen geheimen Listen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Darauf finden sich die nach Einschätzung der BP jM gefährlichen Bücher, Webseiten, Spiele, Filme und Tonträger sowie alle Medien, für die in Deutschland ein allgemeines Verbreitungsverbot gilt. Mit dieser Liste, deren internetrelevanten Teil nur Suchmaschinenbetreiber kennen, sollen entsprechende Seiten von der Internetsuche ausgeschlossen werden.
Mehr als fünfzehn Jahre nach John Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace ist klargeworden, dass die Macht des Staates sehr wohl in den Cyberspace hineinreicht. Und dass nationalrechtliche Konzepte wie zum Beispiel Urheberrechtsfragen das Netz stark betreffen. Man kann Barlows Manifest als Ausdruck des Trotzes, als Drohung, Bannfluch oder als Utopie betrachten – aber inzwischen halten auch viele libertäre Netzfreunde staatliche Regulierung nicht mehr für grundsätzlich schlecht. Die von vielen Medien als
Netzgemeinde
bezeichneten Aktivisten fordern seit einiger Zeit sogar explizit staatliche Eingriffe – wenn es nämlich um Netzneutralität geht. John Perry Barlow hatte 1996 die Rechnung ohne den Markt gemacht, genauer, ohne den marktgesteuerten Zugang zur Infrastruktur des Netzes.
Das Prinzip der Netzneutralität entstand gleichzeitig mit dem Netz. Nochmals die Rückblende auf die Konzepte, die sich 1977 gegenüberstanden: Da war zum einen das militärisch-universitäre TCP und zum anderen das von Telekommunikationsunternehmen geprägte X. 25 . Für die Robustheit, die die Netzstruktur TCP aufweisen sollte, mussten die Teilnehmer autark operieren. Das Netz selbst ist damit «dumm», weil es alle intelligenten Operationen an die Teilnehmer delegiert. Die Konzepte der Telekommunikationsfirmen sahen vor, dass das von den Unternehmen kontrollierte Netz selbst Funktionen bekommt, die über die bloße Datendurchleitung hinausgehen, zum Beispiel: die unterschiedliche Behandlung unterschiedlicher Daten. Auch dieser Streit kehrt inzwischen wieder zurück, denn die «Dummheit» der heutigen Datenleitungen entspricht der Netzneutralität: Das Netz selbst verhält sich neutral, egal wer was wohin sendet oder empfängt.
Es kann technisch sinnvolle Einschränkungen dieses Prinzips geben: Unterschiedliche Datenströme sind unterschiedlich zu behandeln, weil verschiedene Anwendungen unterschiedliche Ansprüche haben. Internettelefonie etwa funktioniert nur dann reibungslos, wenn eine ständige, unterbrechungsfreie Verbindung besteht, die zum Beispiel beim Mailen nicht zwingend erforderlich ist. Dort können Datenpakete auch leicht verzögert eintreffen. Diese Anpassung der Datenströme an die Bedürfnisse der Nutzer nennt sich Netzwerkmanagement. Die Grenze zum Bruch mit der Netzneutralität ist allerdings wiederum sehr dünn, teilweise sogar fließend. Als negative Folge dieser technischen Komplexität ist eine unangenehme Situation entstanden: In der deutschen Diskussion geben sowohl Internetaktivisten wie auch die Gegenseite (die Telekommunikationsunternehmen) an, dass sie die Netzneutralität erhalten wollen. Sie meinen damit nur unterschiedliche Dinge.
Das Prinzip der Netzneutralität ist seit einiger Zeit aus mehreren Gründen unter Beschuss geraten: Zum einen machen Aktivitäten in P 2 P-Netzwerken – also der Austausch von Dateien – einen großen Teil des Datenverkehrs aus. Die Unterstellung, es handele sich dabei zum Großteil um widerrechtlich kopiertes Material, scheint nicht völlig an den Haaren herbeigelogen zu sein. Deshalb wollen einige Netzprovider solche Daten anders behandeln dürfen, besser noch sollten sie sie – so sehen es viele Inhalteverwerter – lieber gleich ganz sperren. Zum anderen steht die Netzneutralität unter Beschuss, weil sie eine potenzielle Einnahmequelle für die Telekommunikationsunternehmen verhindert. Wenn es das Gebot der Netzneutralität nicht gäbe, könnte eine Priorisierung vorgenommen werden: Zahlende Premium-Kunden
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