Internet – Segen oder Fluch
1966 annehmen konnte.
Auch die heute vorgebrachten Argumente, die eine internetverursachte Wahrnehmungseinengung an die Wand malen, haben weniger mit konkreten Problemen als mit anekdotischen Erfahrungen zu tun. Miriam Meckel beschrieb 2011 in der
FAZ
, was ihr im Umgang mit der iTunes-Empfehlungsfunktion
Genius
aufgefallen war: «Was ein Algorithmus macht, ist ja eigentlich simpel: Er wertet als mathematische Formel das aus, was wir bisher getan haben, und projiziert es dann in die Zukunft. Aus unserer Vergangenheit und unserem früheren Verhalten wird unser mögliches zukünftiges Verhalten errechnet. Das bedeutet, wir bewegen uns in einen Tunnel unserer selbst hinein, der immer enger, immer selbstreferentieller wird, weil keine neuen Impulse mehr hinzukommen.»
So simpel ist es aber nicht, auch nicht
eigentlich
. Die meisten Empfehlungssysteme machen genau das, was Meckel vermisst: Sie zeigen dem Nutzer immer wieder auch Unbekanntes, schon allein um auszuloten, was ihn gerade interessiert und was nicht. Viele werten nicht nur die Vergangenheit dieser einen Person aus, sondern auch das Verhalten vieler anderer Nutzer mit ähnlichen Vorlieben. Und sie gewichten neuere Erkenntnisse über einen Nutzer stärker als alte, wenn sie etwas empfehlen – sie gehen also gerade nicht davon aus, dass seine Interessen für immer unveränderlich sind. Die Grundprinzipien hinter den verschiedenen Verfahren sind veröffentlicht und für jeden nachlesbar, der es genauer wissen möchte.
Ein anderer häufiger Kritikpunkt lautet, dass die Vorfilterung zugunsten immer größerer Effizienz den glücklichen Zufallsfund abschafft. «Wem im Job den ganzen Tag lang Effizienzsteigerung eingebläut wird», hieß es 2000 in einem
Spiegel
-Bericht über Partnerbörsen, «der übernimmt die Maxime auch ins Privatleben. Das Glück soll nicht mehr dem Zufall überlassen werden, sondern wenigstens einer Software wie jenen Piepsern, die auf manchen Partys als elektronische Spannungsprüfer fungieren. Sind eigene Vorlieben erst mal programmiert, pfeift das Ding, sobald ein Gleichgesinnter vorbeiflaniert.» [100] Diese Besorgnis ist unverändert aktuell.
In den Zeiten vor der Personalisierung lautete der Vorwurf schon genauso: das Internet habe zu einer Abnahme der glücklichen Zufallsfunde im Vergleich zur Prä-Internet-Welt geführt. Steven Johnson, der Autor von «Everything Bad is Good For You», schrieb 2006 in seinem Blog unter dem Titel «Can We Please Kill this Meme Now»: «Mich regen diese Argumente wahnsinnig auf. Nutzen diese Leute das Web eigentlich? Ich mache unendlich viel mehr seltsame, ungeplante Funde als damals in der Unibibliothek. Das Stöbern in der Bibliothek ist eins der überschätztesten und missbrauchtesten Beispiele im Kanon der Sachen-die-früher-so-viel-besser-waren. (…) Das Vernetzungskonzept des Hypertext und die hungrige Suche der Blogosphäre nach Neuem machen das Web zur großartigsten Zufallsfundmaschine der Kulturgeschichte. Man stolpert vor dem Browser so viel leichter über irgendwas Brillantes, Überraschendes als beim Betrachten von Bücherrücken in der Bibliothek. Durch Musikblogs und iTunes habe ich allein im letzten Jahr mehr interessante neue Bands und Alben entdeckt als in meiner ganzen Collegezeit. Ich weiß, das Radioprogramm ist viel schlechter geworden, aber glaubt irgendjemand im Ernst, dass Radio in seinen Empfehlungen jemals vielfältiger und überraschender war als das Stöbern im iTunes-Katalog oder auf Musikwebsites?»
Seit der Einführung personalisierter Such- und Empfehlungssysteme heißt es nun zwar nicht mehr, vor dem Internet sei alles besser gewesen. Dafür blicken Kritiker jetzt nostalgisch auf das nichtpersonalisierte Internet der neunziger und frühen nuller Jahre zurück. Noch einmal Miriam Meckel: «Uns wird jetzt die Überraschung verwehrt, all das, was in der englischen Sprache im schönen Wort ‹serendipity› ausgedrückt ist – die Möglichkeit, durch einen glücklichen Zufall auf wertvolle Informationen, Dinge, Erfahrungen oder Menschen zu stoßen. All das hat uns das Web bislang geboten und unser Leben bereichert.» Es ist schwer zu erheben, wie häufig man zufällig mit Neuem, Ungesuchtem konfrontiert wird und wie sich diese Häufigkeit im Laufe der letzten Jahre verändert hat. Trotzdem müsste sich genau diese Arbeit erst einmal jemand machen, wenn der Vorwurf der Verschlechterung mehr als nur den vagen Verdacht ausdrücken soll, dass früher alles besser war.
Der
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