Internet – Segen oder Fluch
Relevanz im Google-System. Der wissenschaftliche Begriff für diesen selbstverstärkenden Mechanismus lautet: «Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.» Das ist kein googlespezifisches Phänomen, sondern trifft ebenso auf den
impact factor
[98] bei wissenschaftlichen Zeitschriften zu, man kann es in der Vergabe von Preisen in der Kulturwelt entdecken – wer schon viele hat, bekommt immer noch mehr – sowie in vielen anderen Lebensbereichen.
Schon wenige Jahre später nahm sich Google die Kritik zu Herzen und begann mit der Personalisierung der Suchergebnisse. Seitdem fließen auch Kriterien wie die vorangegangenen Suchen des Nutzers und sein Aufenthaltsort in die Gewichtung der Suchergebnisse ein. Die Tyrannei der Massen war überwunden, ein goldenes Zeitalter der Individualisierung brach an, alle waren glücklich … nein, nicht alle. 2011 beklagte die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel im
Spiegel
die neuen Zustände: «Wir sterben den virtuellen Tod der Berechenbarkeit. Und das Sterben hat Ende 2009 begonnen. Zu dem Zeitpunkt, als Google seinen Suchalgorithmus von dem für alle standardisierten PageRank auf die personalisierte Suche verlagert hat.»
Neben der Google-Personalisierung haben Empfehlungs- und Filteralgorithmen auch anderswo unübersehbar Einzug in den Alltag gehalten: die persönlichen Buchempfehlungen bei Amazon, die Vorschläge, mit wem man sich bei Facebook befreunden könnte, die Werbebanner, die mit den zuvor auf ganz anderen Seiten eingegebenen Suchbegriffen zu tun haben. Das zog eine Welle kritischer Feuilletonbeiträge nach sich, die 2011 mit dem Erscheinen von Eli Parisers Buch «The Filter Bubble: What the Internet is Hiding From You» [99] ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. In der Diskussion werden ziemlich unterschiedliche Themen zusammen abgehandelt: Parisers These von einer Einengung unserer Wahrnehmung durch die «Filter Bubble», die Kritik an Empfehlungsalgorithmen (von denen es wiederum mehr als nur eine Sorte gibt), die Kritik an der Google-Personalisierung sowie die Kritik daran, nach welchen Kriterien Facebook seinen Nutzern bestimmte Beiträge sichtbarer präsentiert als andere.
Das Gefühl, von der Technik entmündigt zu werden, kam nicht erst durch Google in die Welt. Der Informatiker und Technikkritiker Joseph Weizenbaum bemerkte 1976 : «Dass unsere Gesellschaft sich zunehmend auf Computersysteme verlässt, die ursprünglich den Menschen beim Erstellen von Analysen und Treffen von Entscheidungen ‹helfen› sollten, die jedoch seit langem das Verständnis derjenigen übersteigen, die mit ihnen arbeiten, und ihnen dabei immer unentbehrlicher werden, das ist eine sehr ernste Entwicklung.» Damals hieß der Anlass zur Besorgnis noch «Expertensysteme», und Weizenbaum sah die Gefahr vor allem in der wachsenden Komplexität solcher Expertensysteme: Kein Mensch könne diese Programme noch verstehen und damit die Kriterien ihrer Entscheidungen wirklich begreifen, geschweige denn verändern. Es ist heute nicht weniger umstritten als damals, ob es sich bei dieser Befürchtung um ein eher theoretisches Problem oder um eine reale Bedrohung handelt und ob man damit das Programmiererhandwerk unnötig mystifiziert oder realistisch anerkennt, dass komplexe Systeme zu einem unordentlichen, undurchschaubaren Eigenleben neigen.
Ausgangspunkt für Weizenbaums Besorgnis war sein 1966 vorgestelltes Computerprogramm Eliza, einer der ersten Versuche, Sprache zu verarbeiten. Eliza konnte in einer Variante namens
Doctor
psychotherapeutische Gespräche führen «oder besser: parodieren», wie Weizenbaum schrieb. Das einfache Programm stieß auf überraschend großes Interesse, manche Therapeuten prophezeiten den klinischen Einsatz, und viele Nutzer, darunter Weizenbaums Sekretärin, führten intime Dialoge mit der Software. Aus Weizenbaums Erfahrung mit Eliza ging sein Buch «Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft» hervor. Die darin behandelten theoretischen Fragen sind unverändert aktuell und waren es lange vor Weizenbaum (mehr dazu im Kapitel 16 ). Ob sich das von Weizenbaum kritisierte mechanische Bild vom Menschen in der Zwischenzeit weiter durchgesetzt hat und, falls ja, welche konkreten Verschlechterungen unserer Lage sich daraus ergeben haben, ist weiterhin ein Thema großer Nein-Doch-Debatten [24] . Das Führen intimer Gespräche am Computer erfreut sich immerhin heute größter Beliebtheit, wenn auch auf eine ganz andere Art, als man
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