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Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Titel: Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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verarbeitet, übrig gebliebene Knochen in einem neuen Grab auf dem Friedhof untergebuddelt, und alte Urnen landen zumeist auf dem Müll.
    Besonders traurig stimmten mich immer die vergessenen
Gräber. Niemand besuchte diese Toten mehr, alles war verwildert. Und manch einem Holzkreuz hatten Wind und Wetter derart zugesetzt, dass sogar die Namen der Dahingeschiedenen nicht mehr zu entziffern waren.
    Eines Tages stand ich während meiner Rundgänge plötzlich vor einem ungewöhnlichen Grab. Es gab keine Bepflanzung, sondern nur Steine. Und alle Steine waren weiß: die Grabplatte, der Gedenkstein und der Ziersplitt rundherum. Auf dem Gedenkstein war der Name einer Frau eingraviert, die das stolze Alter von achtundneunzig Jahren erreicht hatte. Auf der Grabplatte entdeckte ich einen kleinen Text. Und zwar in der linken unteren Ecke, geschrieben in hellgrauen verschnörkelten Buchstaben. Es war ein Gedicht von Patricia Highsmith:
     
    Bäume
In der Morgenfrühe, Stunden nach meinem Tod,
Wird um sieben die Sonne, wie an jedem Tag,
Über den Bäumen erscheinen, die ich so gut kenne.
Grün werden sie aufleuchten,
und die dunkelgrünen Schatten
weichen der mitleidlos-sanften gefühllosen Sonne.
Gefühllos stehen die Bäume in meinem – meinem Garten,
Ruhig und tränenlos am Tag meines Todes.
Wie immer harren sie mit durstigen Wurzeln,

Stehen gelassen im windstillen Morgen,
Blind, schweigend, ungerührt –
Die Bäume, die ich kannte
Und aufwachsen sah und liebte.
     
    Hatte die Verstorbene so gedacht und empfunden? War es ihr ausdrücklicher Wunsch gewesen, dass diese Worte auf ihre Grabplatte geschrieben wurden? Ich vermute, ja, denn einem Angehörigen wären die Zeilen wohl zu traurig und zu kühl erschienen. Mich sprach die Sachlichkeit des Gedichts so sehr an, dass ich es mir damals gleich von der Grabplatte abgeschrieben habe.
     
    Friedhöfe sind sonderbare Orte der Stille inmitten turbulenter Großstädte. Man nimmt zwar die Hektik des alltäglichen Lebens rundherum noch wahr, aber man fühlt sich vor ihr geschützt. Und selbst die Zeit scheint dort eine andere zu sein als die vor den Friedhofsmauern. So empfinde ich es zumindest.
     
    Während meiner Spaziergänge ertappte ich mich dabei, dass ich bei fast jedem Grabstein, der mir ins Auge fiel, sofort die Lebensspanne des Verstorbenen errechnete. Waren die Menschen sehr alt geworden, malte ich mir ihre Lebensetappen aus. Die Jugend in einem mir fernen Jahrhundert, ihre Berufe, ihr Familienleben, ihr Glück, ihre Schicksalsschläge, ihre
Ängste während eines Krieges, ihre Krankheiten, ihre Schmerzen, ihr Sterben. Stand ich vor dem Grab eines Kindes, hatte ich sofort die Bilder von verzweifelten und fassungslosen Eltern vor Augen. Und ich stellte mir die Frage, wie das Kind wohl sein Sterben empfunden hatte. Wenn es alt genug gewesen war, um das Nahen des Todes zu verstehen, hatte es Angst gehabt? War es in großer Seelennot gewesen? Hatte es versucht, dem Tod zu trotzen?
    Trat ich vor Grabsteine auf denen mein Geburtsjahr zu lesen war, ging mir immer ein besonderer Stich durchs Herz. Als wäre der Tod dadurch noch näher an mich herangerückt. Derjenige, der dort tief in der Erde lag, hatte das Leben bereits verlassen müssen. Ich lebte, ja. Aber wie lange noch?
    Und immer wieder stellte ich mir die Leiden der Verstorbenen vor. Den wenigsten war wohl ein gnädiger Tod geschenkt worden. Die meisten waren krank gewesen, hatten gekämpft, gehofft und schließlich verloren. Alle hier hatten verloren. Wie absurd mir in Anbetracht dieser Gedanken die Welt als solche vorkam. All das Streben und Ehrgeizgezappel, all die Eitelkeiten und Lügen, all die Niedertracht und der Hass. Aber auch das Schöne erschien mir wieder fragwürdig, so wie ich es schon allzu oft empfunden hatte. Alles muss vergehen, alles muss sterben. Warum sollte ich mich also um das Gute und Schöne bemühen? War es letztendlich nicht egal, ob ich Schönes in
meinem Leben erlebte – oder eben nicht? Das Schöne würde mein Nichtsein nach meinem Tod weder abwenden noch verkürzen können. Und nur darum ging es mir doch.
     
    Mittlerweile waren mehrere Menschen aus meinem Umfeld verstorben. Neben Nina, ein paar weitläufige Verwandte, ein Studienkollege, eine ehemalige gute Bekannte und der Bruder meines Vaters, mein Patenonkel. Ihn hatte ich sehr gemocht, und sein plötzlicher Tod traf unsere Familie ins Mark. Ich kann mich noch sehr genau an den Anruf seiner Tochter, also meiner Kusine,

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