Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
Hinterbliebenen verantwortlich, aber manch ein Verstorbener hatte schon zu Lebzeiten gewusst, welche Trutzburg ihn dereinst beherbergen sollte und war damit einverstanden gewesen. Ein Ausbund an Eitelkeit also. Sowohl der Hinterbliebenen als auch der Verstorbenen. Und der jämmerliche Versuch, die vermeintlich irdische Wichtigkeit zu konservieren und dem Tod etwas entgegenzuhalten.
Für mich hatte ich schon lange die Entscheidung getroffen, was mit mir nach meinem Ableben zu tun sei. Ich wollte verbrannt und anschließend anonym beigesetzt werden. Später allerdings erfuhr ich von einer Bestattungsform, die mich bis heute fasziniert und beeindruckt. Man nennt sie »Himmelsbestattung« und sie zählt zu den wohl ungewöhnlichsten Totenriten, von denen ich je gehört habe. Praktiziert wird die Himmelsbestattung in verschiedenen Ländern Zentralasiens, vorwiegend jedoch in Tibet. Bei uns ist sie verboten. So poetisch die Bezeichnung »Himmelsbestattung« auch klingen mag, so schockierend ist für viele Menschen das Ritual selbst. Der Verstorbene wird noch vor Sonnenaufgang zu einem bestimmten Platz in freier Natur gebracht. Dort erwarten ihn bereits die so genannten Leichenzerstückler, die ihn von den Totentüchern befreien und ihn nackt auf die Erde legen. Mit Sonnenaufgang beginnen sie dann damit, den Toten zu zerteilen und ihn an die zuvor angelockten Geier zu verfüttern. Geier gelten in großen Teilen Asiens als heilige Tiere, da sie niemals töten, um sich zu ernähren. In der Regel soll es recht schnell gehen, bis die Vögel einen Menschen verspeist haben. Die übrig gebliebenen Knochen werden entweder eingesammelt und verbrannt – oder zerhackt, mit dem Restfleisch zermahlen und dann auch den Vögel vorgeworfen.
Eine ähnliche Bestattungsform wird in Indien praktiziert.
Auf so genannten »Türmen des Schweigens« legt man den unzerteilten Leichnam ganz oben ab und überlässt ihn dort den Vögeln.
Auf uns Europäer mag dieser Umgang mit Toten brutal und abstoßend wirken. Je länger ich jedoch darüber nachdachte, desto sympathischer wurde mir diese Bestattungsform. Denn so kann ich sofort nach meinem Tod einem anderen Lebewesen etwas Gutes tun, indem ich ihm meinen Körper als Nahrung zur Verfügung stelle. Für Hinterbliebene, die mit dem Ritual der Himmelsbestattung nicht vertraut sind, ist der Vorgang natürlich erschütternd.
Auf meinen vielen Spaziergängen über die Friedhöfe ging ich Gesprächen in der Regel aus dem Weg. Ab und zu allerdings ließen sich Kontakte und auch kleinere Unterhaltungen nicht vermeiden. Eine habe ich bis heute nicht vergessen. Sie hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt.
Es war ein warmer Juliabend, als mir schon von weitem eine kleine ältere Frau auffiel, die an einer Wasserzapfstelle hantierte. Ich kam näher und sah, dass sie offensichtlich Schwierigkeiten mit dem zu fest zugedrehten Wasserhahn hatte. Wir grüßten uns und ich bot ihr meine Hilfe an. Und dann trug ich ihr die gefüllte Gießkanne zu »ihrem« Grab. Es waren einige Meter zu gehen und eine vorsichtige Unterhaltung entspann sich. Zunächst über Belangloses: den Sommer, die Eichhörnchen
und die prächtigen Buchen des Friedhofs. Als wir am Grab angekommen waren, sah ich auf dem Gedenkstein drei Namen. Erst beim zweiten Blick ahnte ich den Zusammenhang. Dort lagen ein älterer Mann, ein jüngerer Mann und eine jüngere Frau. Und alle drei hatten denselben Nachnamen. Die Frau begann, schweigend die Blumen zu gießen, bis ich mir ein Herz fasste – und sie nach den Verstorbenen fragte. Was ich zu hören bekam, ergriff mich tief.
Im Grab lagen ihr Mann und ihre beiden erwachsenen Kinder. Der Sohn war neunundzwanzig Jahre alt geworden, die Tochter fünfundzwanzig. »Wir sind immer eine so glückliche Familie gewesen – bis vor neun Jahren die Katastrophe kam«, sagte die Frau.
Ihre Tochter hatte, als sie rückwärts mit dem Familienwagen aus der Garage fuhr, nicht bemerkt, dass ihr Bruder unter dem Auto lag. Er wollte irgendetwas an der Auspuffanlage reparieren. Zudem hatte sie den Kopfhörer eines Walkmans auf und konnte deshalb die Rufe ihres Bruders nicht hören. Alles soll sehr schnell gegangen sein. Beim Zurücksetzen fuhr sie dann über den Hals bzw. den Kopf des Bruders. Er war sofort tot. Zwei Monate später nahm sie sich mit Schlaftabletten das Leben, die Schuldgefühle waren für sie unerträglich geworden. Wiederum einen Monat danach erhängte sich der Vater der beiden, weil
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