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Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod

Titel: Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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erinnern. Ich nahm den Hörer ab, hörte zunächst ein paar Sekunden nichts, dann sagte sie mit leiser Stimme: »Papa ist tot«, und schwieg wieder. Ich hatte das Gefühl, mein Herz habe aufgehört zu schlagen – und sagte ebenfalls nichts. Es waren endlose Sekunden des Schweigens, bis ich schließlich stammelte: »Das kann doch nicht wahr sein ... warum denn?«
     
    Die Beerdigung meines Onkels war ein Alptraum für mich. Nie zuvor hatte ich meinen sonst so starken und selbstbeherrschten Vater derartig traurig und niedergeschlagen erlebt. Dieser Tod stellte für ihn einen besonderen Einschnitt dar. Er hatte durch den Krieg sowohl seine Eltern als auch seinen zweiten Bruder verloren. Mein Onkel und mein Vater waren
die einzigen Überlebenden der Familie gewesen. Nun musste er von dem letzten und engsten Blutsverwandten seiner Generation Abschied nehmen. Auch meine Mutter war außer sich vor Schmerz. War doch das Verhältnis zwischen ihr und meinem Onkel immer sehr herzlich und gut gewesen. Noch kurz zuvor hatte die Familie den Geburtstag des Onkels gefeiert – und nun standen wir alle an seinem Sarg. Die Einzelheiten der Bestattungszeremonie habe ich nicht mehr im Gedächtnis. Aber ich weiß noch genau, dass die Worte des Pastors ungehört an mir vorbeirauschten und dass ich trotz aller Bestürzung voll des Zornes war. Denn es hatten sich Verwandte eingefunden, von denen ich genau wusste, dass ihnen der Tod meines Onkels vollkommen egal war. Ich wollte sie nicht sehen – und am liebsten hätte ich sie aus der Trauerhalle hinausgeworfen. Aber dazu hatte ich natürlich nicht das Recht. Und dann erinnere ich mich noch, wie ich am offenen Grab des Onkels stehe und auf den bereits hinabgelassenen dunkelbraunen Sarg starre. Ich konnte es nicht fassen, dass in dieser Holzkiste der mir so vertraute Mensch lag, und ich brachte es nicht über das Herz, eine Schaufel Erde darauf zu streuen. Plötzlich musste ich an Ninas Mutter denken, an ihre Worte, die sie zu uns bei der Verabschiedung an der Haustür gesagt hatte – und ich flüsterte, unhörbar für die anderen, vor mich hin: »Nun werde ich ihn nie mehr wieder sehen. Nie mehr.«

    War ich auf den Friedhöfen unterwegs, hatte ich immer das Gefühl, »meine« Toten würden mich begleiten. Ich fühlte mich ihnen zumindest sehr nahe und dachte viel über ihr Leben und ihr Schicksal nach. Dabei beschäftigten mich besonders meine im Krieg ermordeten Großeltern. Sie waren in den letzten Kriegsmonaten in Westpreußen von polnischen Kommunisten in einen See getrieben worden – und dann hatte man sie kurz vor dem Ertrinken erschossen. So wurde es meinem Vater, der Soldat gewesen war, nach dem Krieg von einem Nachbarn meiner Großeltern erzählt. Dieser hatte sich in letzter Minute retten können und war in den Westen geflohen. Meine Oma und mein Opa lagen also auf keinem Friedhof, hatten kein schönes Grab und keinen würdigen Gedenkstein. Ihre Leichen waren vermutlich in dem See verblieben – oder ein barmherziger Mensch hatte sie vielleicht irgendwann an Land gezogen und irgendwo verscharrt. Ich stellte mir so oft ihre Angst und Not vor, die sie ausgestanden hatten, während sie auf den See zuliefen und ihre Mörder im Nacken hatten. Manchmal war diese Vorstellung so intensiv, so real, dass ich Herzklopfen bekam und es mir schließlich untersagte, noch weiter und genauer über die Mordszene nachzudenken.
    Ich konnte sehr gut verstehen, dass mein Vater nach dem Krieg nie wieder einen Besuch in seiner alten Heimat gemacht hatte. Es hätte ihm wohl das Herz
gebrochen. Denn auch sein Elternhaus war zerstört worden, so hörte man, und an den besagten See, der nicht weit vom elterlichen Grundstück entfernt war, hätte er niemals gehen können.
    Und selbst ich, der einer anderen Generation angehört und für den das Geschehene so weit weg liegt, habe mich bis heute nicht dazu durchringen können, einmal in das Heimatdorf meines Vaters unweit von Danzig zu reisen. Es wäre ja heutzutage überhaupt kein Problem. Aber ich habe schlichtweg Angst vor dem großen Schmerz, der mich mit Sicherheit beim Anblick des Sees und auch des alten Dorfes überwältigen würde. Warum also sollte ich mir das antun?
     
    Ich habe mich immer darüber gewundert, dass die Menschen selbst im Angesicht des Todes nicht bescheiden werden. Auf allen Friedhöfen, die ich durchstreifte, gab es eine Unzahl von monumentalen oder zumindest sehr aufwändig gestalteten Grabstätten. Sicher, dafür waren die

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