Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
er die Seelenschmerzen nicht mehr hatte aushalten können. Zurück blieb die Frau. Das Ehepaar hatte keine weiteren Kinder.
Das also war die Geschichte dieses Grabes. Die Frau erzählte sie mir ganz sachlich, konzentriert und ohne zu weinen. Sie hatte vermutlich keine Tränen mehr.
Am unteren Rand des Grabsteins stand zu lesen: Der Liebe Ende ist das Leid .
Gesprächsprotokoll
Ich möchte mit dir über die Liebe sprechen.
Ich fühle mich geehrt. In der Regel denken die Menschen nicht an mich, wenn sie sich mit der Liebe beschäftigen.
Das geht mir genauso. Aber ich möchte erfahren, was du über die Liebe weißt.
Alles.
Wirklich alles?
Ja.
Was also hat es mit der Liebe auf sich?
Sie ist das Ziel, die endgültige Erfahrung.
Das ist mir zu abstrakt.
Gut, über welche Liebe möchtest du mit mir sprechen?
Du hast Recht, es gibt tausend Vorstellungen und tausend Meinungen über die Liebe. Ich will konkret fragen: Im Christentum finden wir das Gebot der Nächstenliebe. Was denkst du darüber?
Mit moralischen Forderungen erreicht man nichts.
Liebe kann man nicht verordnen.
Sondern?
Man muss zu ihr finden.
Wie findet man zur Liebe?
Nur über das Mitgefühl.
Aber wenn ich mich in jemanden verliebe, empfinde ich doch kein Mitgefühl für die Person.
Über diese Form der Liebe spreche ich nicht. Sie ist allzumenschlich, denn sie sucht Bestätigung.
Also gibt es eine gute und eine weniger gute Liebe?
Sagen wir es so: Es gibt eine Liebe, die um das Ich kreist, die fieberhaft ist, die haben und besitzen will, die der Selbstentfaltung dient und die voller Absichten steckt. Diese Liebe hält den Menschen gefangen in seinem Ego.
Hast du etwas gegen Selbstentfaltung?
Natürlich soll der Mensch gemäß seiner eigenen Natur leben. Nur – Selbstentfaltung, wie sie heute verstanden wird, endet im Narzissmus und im Individualismus.
Aber es ist doch schön, dass wir alle Individualisten sind – und eben nicht als Konformisten durch die Welt laufen.
Darum geht es nicht. Die Weisen der Welt waren nie Konformisten, im Gegenteil, aber sie haben alle die Erfahrung der Ich-Überwindung gemacht.
Was nun ist die ... wie soll ich es sagen ... richtige oder gute Liebe?
Die keinen Zweck verfolgt und den Menschen selbstlos werden lässt – selbstvergessen. Und das bedeutet die Abkehr von Stolz, Wut, Eifersucht, Gier und Ärger.
Klingt gut und ist sicher erstrebenswert.
Ja, wer so liebt, hat Ehrfurcht vor allem. Vor allen Lebewesen und allen Dingen.
Aber es erscheint mir so unendlich schwer, all meine Emotionen, Triebe, Sehnsüchte und Hoffnungen zu beherrschen oder gar zu überwinden.
Dazu bedarf es der Übung und immer wieder der inneren Einkehr. Hast du aber zur Liebe gefunden, kannst du machen, was du willst – du wirst immer das Richtige tun.
Was erkenne ich, wenn ich auf diese Weise liebe?
Dass eins alles ist – und alles eins.
Wie bitte?
Wenn du liebst, machst du eine Einheitserfahrung.
Du erkennst, dass du mit allem verbunden bist.
Also reden wir nicht über die Liebe zu einer Person.
Nein. Diese Liebe, über die ich spreche, geht weit über ein »Ich liebe dich« hinaus. Weil es in dieser Liebe weder »Ich« noch »Dich« gibt.
Kurze Gesprächspause
Ist dieses Gefühl eine Gotteserfahrung?
Wenn du den Begriff Gott noch einmal gebrauchen möchtest, ja.
Kurze Gesprächspause
Du sprachst gerade davon, dass es der Übung bedürfe, um die Widerspenstigkeiten des Ichs zu überwinden. Was genau meinst du mit Übung?
Schweigen ist der Schlüssel zu allen Geheimnissen. Übe dich darin, wann immer du kannst. Aber du musst auch im Geiste schweigen lernen – bis eine große Stille in dir herrscht.
Gesprächspause
Was denkt der Tod über die Sexualität?
Die Sexualität gehört zum Menschen wie das Atmen, das Essen und das Trinken.
Auf Sexualität jedoch kann man verzichten.
Ja, aber ein jeder gehe seinen Weg. Es gibt keine Regeln. Erotik und Sexualität können durchaus Stufen sein, die zu tiefen spirituellen Erfahrungen führen.
Und wenn es aber ausschließlich um Lust geht?
Nur Süchte schaden dem Menschen.
Die meisten Religionen zeigen sich nicht gerade sinnenfreundlich, sie trennen Geist und Körper.
Weil sie sich als moralische Sittenwächter aufspielen. Der Körper aber sei des Menschen Freund – nicht sein Feind.
Ich möchte noch einmal grundsätzlich auf die Liebe zurückkommen. Unter den Menschen gelten du, der Tod, und die Liebe als die ewigen Gegenspieler. Wer
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