Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
nun hat die größere Macht?
Du scheinst noch nicht verstanden zu haben. Liebe und Tod sind ebenso wenig gegensätzlich wie Tod und Leben, Hell und Dunkel, Gut und Böse.
Das verstehe ich nicht.
Weil du in Dualitäten denkst. Davon musst du dich befreien. Wenn ich von Einheit und Einheitserfahrung spreche, meine ich genau das: Alles beinhaltet auch immer das Gegenteil.
Kurze Gesprächspause
Darüber müssen wir noch genauer reden ... Demzufolge aber ist der Spruch unzutreffend, den ich damals auf dem Grab der alten Frau gelesen habe, die beide Kinder und ihren Mann verloren hatte?
Wie lautete der Spruch?
Oh, offenbar kann auch der Tod mal etwas vergessen.
Im Vergessen liegt viel Gnade – zumindest für euch Menschen. Also, wie hieß der Satz?
»Der Liebe Ende ist das Leid.«
Er ist falsch, weil es kein Ende der Liebe gibt – so wenig wie einen Anfang.
Er ist richtig, weil hier offensichtlich die personale Liebe gemeint war.
Was hätte die Frau trösten können?
Vielleicht ein Blick auf die Blüte einer Rose – oder das Geräusch fallenden Schnees in der Stille.
6
Ich wurde älter und älter, aber ich kam keinen Schritt in der Frage weiter, wie ich den Tod einordnen sollte. Die Angst vor ihm hatte sich nicht im Geringsten verändert, und mir war es unbegreiflich, wie perfekt unsere konsumorientierte und glitzernde westliche Kultur den Tod verdrängte und tabuisierte. Kaum jemand schien sich mit ihm zu beschäftigen. Kam es dann aber zu einem Todesfall, waren die Hinterbliebenen oftmals völlig überfordert, und niemand stand ihnen wirklich und dauerhaft zur Seite. »Um ein Todeshaus machen die Menschen einen Bogen«, sagte mir einmal eine Anruferin in meiner Sendung, die ihren krebskranken Sohn in ihrem Haus bis zum Schluss gepflegt und umsorgt hatte. Ähnliches haben mir viele Menschen erzählt. Unmittelbar nach einem Trauerfall kommen sie noch, die Nachbarn, Verwandten oder Freunde. Man sagt »Herzliches Beileid«, geht zur Beerdigung, kauft einen Kranz oder ein Blumengesteck, ruft, wenn es hochkommt, noch zwei, dreimal an oder macht einen Besuch – und das war es dann auch. Nach ein paar Wochen oder gar Monaten ist das Thema abgehakt. Nur für die Hinterbliebenen des Verstorbenen nicht, die sich kaum mehr trauen, ihren Schmerz noch von sich aus anzusprechen. Sie haben Angst, die anderen mit ihren ernsten Gedanken
zu belästigen. Spätestens wenn ein Trauernder den Satz hört »Das Leben muss ja weitergehen«, wird er sich gänzlich in sich zurückziehen. Bestimmt zwei Drittel meiner Anrufer, die einen geliebten Menschen verloren hatten, fühlten sich allein und isoliert, besonders wenn der Todesfall schon etwas länger zurücklag. Niemand mehr brachte das Gespräch auf den Verstorbenen, keiner mehr fragte die Trauernden nach ihrem Befinden. Ein Armutszeugnis für unsere moderne Zivilisation, in der Tod und Sterben wie ein Störfall behandelt werden, und die alles daran setzt, die Vergänglichkeit vergessen zu machen.
Vor ein paar Jahren dann fiel mir ein merkwürdiges Buch in die Hände. Es stammte aus einer mir bis dahin fremden Kultur – und zog mich sofort in seinen Bann. Sein Name: Das Tibetische Totenbuch.
Ich hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt kaum mit anderen Religionen und deren Haltung zum Tod beschäftigt. Nach meiner Abkehr vom christlichen Glauben erwartete ich nichts Erhellendes mehr von anderen religiösen Modellen. Ging es doch immer um mehr oder weniger komplexe Gedankengebäude, die man entweder glaubt – oder eben nicht. Ob der Anzubetende nun Jesus, Allah, Vishnu, Jahwe oder Buddha hieß, machte für mich keinen Unterschied. Ich konnte und wollte niemanden mehr anbeten. Trotzdem begann ich, in dem heiligen Buch des tibetischen
Buddhismus zu lesen. Und Glauben hin oder her, das Buch ließ mich nicht mehr los. Über Wochen vergrub ich mich in jeder freien Minute darin und mühte mich durch die schwierigen und bisweilen gruseligen Texte. Sollte alles so sein, wie das Buch es beschreibt, so stünde wohl den meisten Menschen, unmittelbar nach ihrem Ableben, eine schwierige und unter Umständen äußerst beängstigende Bewährungsprobe bevor.
Im Folgenden möchte ich ein wenig von diesem geheimnisvollen Werk erzählen.
Es ist ungefähr zwölfhundert Jahre alt, als Verfasser gilt der tibetische Heilige Padmasambhava und im Original heißt das Buch Bardo Thödol , was übersetzt in etwa bedeutet: Befreiung nach dem Tode durch andächtiges Zuhören. Erst 1927
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