Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
Mitarbeitern der Palliativstation. Hört mein Vater das Rasseln? Wie deutet er es? Die Sonne scheint auf das Fußende seines Bettes. Ich denke an sein Leben. Vor achtzig Jahren lag er auch in einem Bett, einem kleinen, da war er ein Säugling von wenigen Monaten. Unfassbar, was die Zeit aus einem Menschen macht. Kommen ihm jetzt die traumatischen Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg noch einmal zu Bewusstsein? Sieht er sein Heimatdorf in Westpreußen? Seine Eltern, seine Brüder? Und seine Tauben, die er als Kind so mochte? Ob es stimmt, dass vor dem inneren Auge eines Sterbenden sein ganzes Leben wie ein Film abläuft? So, wie es jetzt ist, kann es noch Tage gehen, sagt eine Krankenschwester zu uns. Ich habe Magenschmerzen und mache mir Sorgen um meine Mutter. Wie zerbrechlich sie wirkt. Aber ich weiß, dass sie eine starke Frau ist. Du musst ein paar Kekse essen, sage ich. Ich kann nicht, antwortet sie. Ich koche noch einmal Tee. Wir können nichts weiter tun, als nur anwesend zu sein. Ob er uns noch wahrnimmt? Die Krankenschwester meint, dass er nicht mehr permanent bei Bewusstsein ist. Ich wünsche es ihm.
Ich denke darüber nach, ob es überhaupt gut ist, dass wir bei ihm sind. Erfahrene Sterbebegleiter haben mir erzählt, dass es Sterbenden leichter fällt zu gehen, wenn die Angehörigen nicht im Zimmer sind. Aber niemand weiß es. Vielleicht ist Sterben ein so komplizierter Vorgang, dass schon ein leichtes Räuspern den Sterbenden stört. Geschweige denn Weinen oder Schluchzen. Ich weine nicht. Ich zwinge mich dazu mit allen Kräften – und es gelingt auch. Genau dasselbe scheint meine Mutter zu tun. Löst sich gerade seine Seele von seinem Körper? Wenn ich das glauben könnte, es würde mir helfen. Wir haben die Terrassentür geöffnet und ein milder, leichter Abendwind weht herein. Das Rasseln wird lauter. Eigentlich höre ich nur noch Rasseln und kaum mehr Atmen. Mein Blick schweift über das Bett meines Vaters hin zur geöffneten Terrassentür, gleich vorne blüht rot-rosa eine Fette Henne. Wie merkwürdig, sie war mir vorher nicht aufgefallen. Diese Blume war die Lieblingsblume meines Vaters, zeit seines Lebens. Wir sind wie in Trance, meine Mutter und ich. So vergeht die Zeit. Gegen 18.45 Uhr verlangsamt sich seine Atmung. Er scheint ruhiger zu werden. Vielleicht ist er jetzt ins Koma gefallen, ich weiß es nicht. Auf der Stirn aber wieder Schweiß, ich tupfe ihn ab ...
Um 19.10 Uhr macht mein Vater seinen letzten Atemzug. Dieser Atemzug wirkt wie die letzte große
Anstrengung, die er noch zu bewältigen hat. Danach entspannt sich sein Gesicht binnen weniger Momente. Wir erkennen ihn kaum wieder. Als wolle er uns sagen: Nun ist es gut. Nun gibt es kein Leid mehr. Nun ist Frieden.
Sechs Stunden sind wir dann noch bei ihm geblieben. Meine Mutter und ich. Eine Krankenschwester umarmte uns. Ging danach auf die kleine Terrasse, pflückte die Fette Henne, kam zurück ins Zimmer und steckte den Blütenstiel zwischen die gefalteten Hände meines toten Vaters. Meine Mutter und ich waren sprachlos. Niemand hatte der Schwester etwas von der Vorliebe meines Vaters für diese Blumen erzählt. Und wie sich später herausstellte, er selbst auch nicht.
Während der Totenwache kamen noch meine beste Freundin und ein guter Freund zu uns ins Dr. Mildred Scheel Haus .
Ich danke meinen Freunden für ihren Beistand und Trost.
Zwei Wochen später fand die Beerdigung statt. Meine Erinnerungen an diesen Tag sind diffus. Ich stand neben mir und ließ alles geschehen. Der erste Blick auf die Urne, beim Betreten der Leichenhalle, war schockierend. Dort drin, in jenem kleinen Behältnis, befanden sich also die Reste meines Vaters. Während
der Pastor sprach, nahm ich meine Mutter in den Arm und zählte in Gedanken von Hundert rückwärts gen Null, immer wieder. Sonst hätte ich es nicht geschafft, für sie stark zu sein. Danach schüttelte ich Hände, kniete vor dem offenen Grab, warf Rosen auf die Urne und trank mit den Trauergästen Kaffee. Am Abend ging ich allein am Rhein spazieren.
Was bleibt nun, nach all dem, was geschehen ist, und nach all dem, was ich gedacht und gelesen habe?
Es bleibt die Angst.
Die Angst vor dem nächsten Todesfall.
Und die Angst vor Leid und Sterben.
Nur meinen eigenen Tod sehe ich manchmal in einem etwas anderen Licht. Denke ich an mein Ende, so flackert ab und zu ein Gefühl auf, das mir bisher gänzlich fremd war:
Wenn alle Aufgaben erfüllt sind,
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