Intimitaet und Verlangen
veranschaulicht diesen Prozess sehr treffend. Die erste Freundin, die Tom nach seiner Scheidung kennenlernte, hatte ihm gerade den Laufpass gegeben, und Helen hatte sich kürzlich vonihrem Ex-Mann getrennt. Nach ein paar Kinobesuchen und Essenseinladungen waren beide ein Paar. Weil beide sich noch von ihren gescheiterten Ehen erholten, beschlossen sie, zunächst nur gelegentlich miteinander auszugehen und abzuwarten, was sich daraus entwickeln würde. Beide waren zu einer umfassenden Verpflichtung nicht bereit, und sie wollten die aufkeimende Beziehung nicht durch langwierige Diskussionen ruinieren.
Nachdem sie ihren Kontakt eine Weile in diesem Rahmen gepflegt hatten, erwiesen sich die getrennten Wohnungen als hinderlich. Sechs Monate nach Beginn ihrer Bekanntschaft zog Tom quasi bei Helen ein. Das war unter anderem deshalb kein groÃer Akt, weil die Hälfte seiner Sachen ohnehin schon bei ihr lagerte. Ein klares Gespräch darüber, was diese Veränderung für sie beide bedeutete, fand nie statt. Helen wollte Tom nicht dazu drängen, und Tom wollte grundsätzlich nicht darüber reden. Er erklärte, er empfinde das Zusammensein mit Helen als wunderschön, und sie sollten diesen Zustand einfach genieÃen und schauen, was sich daraus entwickeln würde.
Drei Jahre später sah die Situation etwas anders aus. Tom wollte immer noch mit Helen zusammenleben, aber er wollte keinen Sex mehr mit ihr, und er war auch nicht bereit, sie zu heiraten. Da stand Helen nun mit Tom, der zwar in ihrem Haushalt lebte, aber nie bewusst die Entscheidung traf, dass er dort wirklich sein wollte. Rückblickend war ihr klar, wie sie von dem Punkt, an dem sie beide zu Beginn ihrer Bekanntschaft gestanden hatten, zur augenblicklichen Situation gekommen waren: Sie hatten die schwierigen Fragen darüber, was sie einander bedeuteten, einfach ignoriert.
Weshalb es so wichtig ist, gewählt zu werden
Tom wollte Helen nicht wählen, aber sie auch nicht verlieren. Um dies zu vertuschen, wehrte er Helens Versuche ab, zu lesen, was in seinem Geist vor sich ging. Er sagte bewusst Dinge, die Helen einen falschen Eindruck von ihm vermittelten. Vielleicht fürchtete er, sie würde sich in seine Mutter verwandeln; doch in Wahrheit war Tom selbst derjenige, der durch sein Handeln die Dynamik seiner Mutter verkörperte. Seine Botschaft, die sich durch die gesamte sexuelle Beziehung zwischen ihm und Helen zog, lautete: »Wenn du mich wirklich liebst, bleibst du mit oder ohne Sex bei mir und machst mich glücklich.«
AuÃerdem brauchte Helen es, sich gewählt fühlen zu können. Ihr gespiegeltes Selbstempfinden basierte darauf, gewählt und gewollt zu werden. Sie brauchte das Gefühl, gewählt worden zu sein, aus den gleichen Gründen, aus denen Tomnicht wählen wollte: aufgrund des niedrigen Entwicklungsstandes der Vier Aspekte der Balance . Dies erklärt, warum Millionen von Menschen Helen gleichen. Aber es erklärt nicht, warum Helen zu ihnen zählt.
In Helens Kindheit und Jugend war es in ihrer Familie ziemlich chaotisch zugegangen. Ihr Vater war glücksspielsüchtig und trank. Ihre Mutter bestritt den Haushalt ausschlieÃlich mit dem Geld, das sie selbst verdiente. Der Vater verjubelte seinen gesamten Verdienst. Helens Eltern stritten die meiste Zeit mit ihrem älteren Bruder. Er war ihre groÃe Hoffnung, weil er sich auch stellvertretend für sie in die familiäre Situation einmischte. Doch er hatte eine Gefängnisstrafe wegen Autodiebstahls bekommen, als Helen 14 Jahre alt gewesen war, und war in einer Schlägerei mit anderen Gefängnisinsassen umgekommen. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts hatte Helen eine Anzahl Liebesaffären gehabt, die alle letztlich gescheitert waren, und darauf waren eine kurze Ehe und eine chaotische Scheidung gefolgt. Zu der Zeit, als sie Tom kennengelernt hatte, hätte sie sich mit jedem Mann zusammengetan, der sie nett behandelt hätte.
Die Bedeutung, die Helen mit Sex verband, war: »Ich bin froh, dass es mir gestattet wird mitzumachen; du brauchst mich nicht zu wählen.« Ihr Bedürfnis, gewollt zu werden, beinhaltete nicht, dass sie nach jemandem Ausschau hielt, der sie wirklich wollte. Ganz im Gegenteil: Sie gaukelte sich bezüglich Tom ebenso etwas vor, wie sie es bezüglich ihrer Eltern getan hatte. In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie gelernt, dass es Vorteile hatte, hilfsbereit zu sein und nicht um
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