Intimitaet und Verlangen
zurück, wie seine Eltern ihn durch Kitzeln gefoltert hatten, und ebenso wenig an seine Enttäuschung über sie; doch beides war Bestandteil der früheren Lücken seiner autobiographischen Erinnerung â Dinge, die er »irgendwie wusste«, über die er aber »nie richtig nachgedacht« hatte. Oberflächlich betrachtet schaute Anthony sich die Dinge weder analytisch noch emotional an. In Wahrheit vermied er es, dem, was er in der Vergangenheit erlebt hatte, eine Bedeutung zuzuschreiben.
Doch die Arbeit an der Kitzligkeit förderte zahlreiche lebhafte Erinnerungen,Wahrnehmungen und Gefühle zutage, die seine und Colleens Kindheit geprägt hatten. Während wir uns abwechselnd der Desensibilisierung der Kitzligkeit und der Verarbeitung von Kindheitserlebnissen widmeten, gelang es Colleen und Anthony, sich gemeinsam physisch und emotional zu entspannen. Sie verstanden ihr Leben nun besser, und dieses Gefühl erdete sie, und auÃerdem fühlten sie sich stärker in Kontakt mit sich selbst. Sie brauchten nun keine Energie mehr darauf zu verwenden, ihren Geist so zu organisieren, dass er sich nicht an Dinge erinnerte. Sie erinnerten sich an zahlreiche Ereignisse lebhaft in Form innerer Bilder und viszeraler Reaktionen (Abruf aus dem in der rechten Hemisphäre angesiedelten autobiographischen Gedächtnis), sichteten die Details (in der linken Hemisphäre angesiedeltes analytisches Denken) und verbanden schlieÃlich beides zu einem umfassenderen Bild.
Sich physisch und mental zu entspannen, während ihre Körper einander berührten, war für Colleen und Anthony eine wichtige neue Erfahrung. Körper und Geist zur Zusammenarbeit zu bewegen, kostete sie einige Mühe, die sich aber für sie lohnte. Nach meinen Erfahrungen kann dies für die Auflösung von Traumata wichtiger sein, als Gefühle verbal auszudrücken, Erkenntnisse zutage zu fördern oder bisher unerschlossene Erinnerungen zugänglich zu machen. Entscheidend ist offenbar das Erreichen neuer Integrationsstufen, ganz gleich, ob es sich (a) um die Entwicklung kohärenterer autobiographischer Lebensbeschreibungen, (b) die Ãbermittlung von Informationen zwischen den beiden Gehirnhälften oder (c) die Aufrechterhaltung einer kollaborativen Allianz handelt. Durch Einbeziehung des Körpers wird dem Prozess eine weitere Integrationsstufe hinzugefügt, welche die positiven Wirkungen aller übrigen verstärkt.
Der sexuelle »Kick« der Kitzligkeit
Kitzeln gehört bei einigen Menschen zum Standardrepertoire sexueller Aktivitäten, weil ihre Erregung dadurch einen starken »Kick« bekommt. »Fangen« zu spielen bringt bei den Betreffenden das Adrenalin in Schwung, treibt ihr Herz zu höherer Leistung an und bringt ihre »Säfte« zum FlieÃen. Auf diese Weise wird eine zunächst durch Angst verursachte allgemeine körperliche Erregung in sexuelle Erregung umgewandelt.
Familien auf der ganzen Welt haben Freude am (maÃvollen) Kitzeln, wenn ihre Kinder noch klein sind. Erreicht der Nachwuchs die Pubertät, wird diese Aktivität zu einer Art des Flirtens, und den meisten Familien ist dann klar, dass es an der Zeit ist, mit dem Kitzeln aufzuhören.
In Colleens Familie war dies nicht so gewesen. Ihre Brüder, Schwestern und Eltern hatten ihre sexuellen und feindseligen Impulse durch erotisiertes und einer Folter ähnliches Kitzeln ausgelebt. Zwar sprach niemand darüber, doch alle spürten es, weil sie zu lesen verstanden, was im Geist der anderen Familienmitglieder vor sich ging. Solche stark angstbesetzten, sexuell eingefärbten Interaktionen hatte Colleen während ihrer gesamten Adoleszenz erlebt. In Anthonys Familie hatte das Kitzeln einen eher sadistischen als sexuellen Charakter gehabt, doch die Prägung, die dadurch entstanden war, wirkte ebenso stark. Diese von »Hochspannung« geprägten Augenblicke der Begegnung hatten das Leben der beiden Partner, ihre Ehe und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ihr Gehirn beeinflusst. Nach meinen Erfahrungen entwickeln Menschen, die in stark von Ãngsten bestimmten Umgebungen (mit oder ohne Kitzeln) aufwachsen, häufig später im Leben dominierende Muster auf Angst basierender bzw. sexueller Erregung. 13  14
Wie Kitzligkeit auf das sexuelle Verlangen wirkt
Colleen reagierte so wie die meisten Klienten: Sie durchlebte eine für sie schwierige Situation, und danach ging es ihr
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