Intimitaet und Verlangen
völlig neue Weise herangehen, selbst wenn Sie sich schon seit Jahrzehnten in einer solchen Pattsituation befinden. Sicherlich fällt es Ihnen am Anfang schwer, diese Möglichkeit zu würdigen, insbesondere wenn Sie »mitten im Schlamassel« stecken. Ãber die eigenen Ãngste und Unsicherheiten hinauszublicken ist nie leicht. In solch einer Situation können Sie nicht erkennen, dass eben das, was Ihre Beziehung und Ihr Selbstempfinden bedroht, letztlich beides stärken wird â vorausgesetzt, es gelingt Ihnen, den Wachstumsschmerz zu ertragen.
Die Auflösung von Pattsituationen eröffnet Wachstumschancen für die Liebesbeziehung. Im übrigen sind einige Neurowissenschaftler der Auffassung, dass das menschliche Gehirn durch die Konfrontation mit belastenden und besonders bedeutsamen Ereignissen flexibler wird. Um die Weiterentwicklung des Menschengeschlechts zu fördern, nutzt die Natur etwas wesentlich Zuverlässigeres als das Unbewusste. Könnten emotionale Pattsituationen eine Methode der Natur sein, neuronale Plastizität zu fördern und Möglichkeiten zur »Reparatur« des Gehirns zu schaffen?
Und noch eine gute Nachricht: Die gemeinsame persönliche Entwicklung von Partnern hat gewisse Ãhnlichkeiten mit dem sogenannten »Bockspringen«: Wenn der eine Partner hinsichtlich der Vier Aspekte der Balance Fortschritte erzielt, stimuliert er dadurch auch beim anderen einen Schub der Persönlichkeitsentwicklung. Die verbesserte Funktionsfähigkeit des einen Partners wirkt sich aufdie des anderen sehr stark aus, wenn sich beide im Zustand emotionaler Verschmelzung und in einer Pattsituation befinden. Das ist deshalb gut, weil die Auflösung eines solchen Patts erfordert, dass (mindestens) einer von beiden die Vier Aspekte stärkt.
Leider entspricht dies in vielen Fällen nicht der Absicht der Betroffenen. Meist will der eine Partner dem anderen die Verantwortung dafür zuschieben, dass er selbst sich besser fühlt. Dies ist eine so instinktive Reaktion, dass schwer zu erkennen ist, weshalb sie sich als problematisch erweisen könnte. Wir alle wünschen uns seit unserer Kindheit, dass ein anderer Mensch uns tröstet.
In Teil I habe ich Sie aufgefordert, sich von der Vorstellung zu lösen, dass Sex »eine natürliche Funktion« sei. Nun möchte ich eine ähnliche Aufforderung an Sie richten: Lösen Sie sich von der Idee, Interaktionen zwischen Kindern und Müttern seien ein geeignetes Modell für Liebesbeziehungen zwischen Erwachsenen. Vergessen Sie auch die Theorie, unerfüllte »Bindungsbedürfnisse« seien die primäre Ursache Ihrer Probleme. Diese Verzerrung intensiviert die emotionale Pattsituation, macht es schwieriger, mit Problemen hinsichtlich des sexuellen Verlangens fertigzuwerden, und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es letztendlich doch zu einer Scheidung kommt.
Differenzierung
Der Prozess der Entwicklung der Vier Aspekte der Balance , den ich beschrieben habe, wird Differenzierung genannt. Ohne diesen Begriff zu erwähnen, habe ich in Teil I des Buches bereits zwei Formen von Differenzierung erläutert: Die eine davon war die Differenzierung der Arten , ein Evolutionsprozess, der sich über viele Generationen einer Lebensform erstreckt. Die andere war die Ihrer persönlichen Differenzierung â Ihr Bedürfnis, ein stabiles Selbstempfinden zu entwickeln und zu erhalten, das Ihnen hilft, anderen näherzukommen. Stellen Sie sich die Differenzierung als Ihre Fähigkeit vor, während der Interaktion in wichtigen Beziehungen Ihr emotionales Gleichgewicht zu erhalten. Dies bedeutet praktisch, dass Sie die Vier Aspekte der Balance nutzen. Je stärker diese bei Ihnen sind, umso weiter ist Ihre Differenzierung fortgeschritten (und umgekehrt).
Bei der Differenzierung geht es um die Entwicklung von Lebensformen und darum, wie diese sich neue Fähigkeiten aneignen, was manchmal zur Entstehung völlig neuer Arten führt. Dass Menschen sich völlig anders entwickelten als beispielsweise Schimpansen und Gorillas, ist im Grunde ein Phänomen derDifferenzierung. Als wir uns damit beschäftigten, wie unser Gehirn ein komplexes Selbstempfinden und die Fähigkeit zum mentalem Spiegeln entwickelte, ging es im Grunde um die Resultate der Differenzierung (von Gehirnzellen). Indem ich beschrieb, wie unterschiedlich drei Paare auf die Tatsache reagierten, dass der Partner mit dem
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