Intimitaet und Verlangen
Selbstkonfrontation und zu selbstbestätigter Intimität
Bevor Sharon und Thomas zu mir kamen, glaubten sie, das Problem in ihrer Beziehung zu kennen: Sie waren überzeugt, dass sie absolut nicht harmonierten und sich auf zwei völlig unterschiedlichen Wellenlängen befänden. Sharon klagte, zwischen ihnen bestehe keine Verbindung, und sie komme nicht in den Genuss der »Spiegelung«, die sie brauche. Diesen Begriff hatte sie in einem Buch gelesen, in dem beschrieben wurde, was sie sich wünschte: dass sie und Thomas wie eine Person interagierten.
Doch Sharons Vorstellung von »Spiegeln« beinhaltete nichts anderes, als dass ihr gespiegeltes Selbstempfinden aufgebläht und ihr Selbstbild (verzerrt, wie es war) ihr widergespiegelt würde. Das Feedback, das sie stattdessen erhielt, war ein zutreffendes Bild ihrer selbst als einer kontrollbesessenen Person â ein Eindruck, den hervorzurufen sie nie geglaubt hatte.
Tatsächlich »harmonierten« Sharon und Thomas zu sehr . Vielleicht ist Ihnen dies ohnehin schon klar geworden. Die Verbrämung mehrerer Pattebenen, Verweigerungsduelle, gespiegeltes Selbstempfinden und Abhängigkeit von fremdbestätigter Intimität erzeugen eine Art von »Harmonie«, die man sich nicht wünschen kann. Anders als Sharon und Thomas selbst es empfanden, glichen sie siamesischen Zwillingen, die durch ihr gespiegeltes Selbstempfinden, ihre Abhängigkeit von fremdbestätigter Intimität, ihre Probleme mit der Regulierung ihrer Emotionen, ihre Ãberreaktionen und ihre mangelnde Bereitschaft, sich ins Unbekannte vorzuwagen, miteinander verbunden waren. Sie hatten das Gefühl, nicht im Einklang zu sein, weil ihr Verhältnis so stark vom Zustand emotionaler Verschmelzung bestimmt war.
Weshalb es wichtig ist, sich aus dem Zustand falscher Harmonie zu lösen
Fremdbestätigte Intimität ist personenbezogene Synchronizität, der Heilige Gral der nie endenden Suche nach dem perfekten Seelenpartner. Synchronizität bedeutet, dass der eine Partner sich offenbart und der andere dies akzeptiert und bestätigt und/oder sich in gleicher Weise offenbart. Die Bedeutung emotionaler Synchronizität ist wohlbekannt: Potentielle Partner kommen einander durch synchrones Verhalten näher â indem sie einander absichtlich oder unbewusst spiegeln. Wenn sie gemeinsam ausgehen und der eine seine Beine übereinanderschlägt, tut die andere dies auch. Lehnt sich der eine vor, macht die andere es ihm nach. Erzählt der eine Witze, lacht die andere. Untersuchungen haben ergeben, dass es zwischen potentiellen Partnern wahrscheinlich nicht zum Sex kommt, wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Verhalten in erheblichem MaÃe zu synchronisieren. 6
Vor 70 Jahren stand die Synchronizität zwischen Mutter und Kind im Mittelpunkt der psychologischen Erforschung des Lebens von Kindern. Fütterte die Mutter ihr Baby, wenn es Hunger hatte und deshalb weinte? Schaute sie das Kind an, wenn es versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Tröstete sie das Kind, wenn es aufgebracht oder gereizt war? Lange herrschte in Expertenkreisen die Ãberzeugung, je stärker die Synchronizität, umso besser sei die Bindung zwischen Mutter und Kind und umso besser gehe es dem Baby.
In den vergangenen Jahrzehnten haben Entwicklungspsychologen untersucht, was geschieht, wenn Kinder und ihre Mütter sich nicht im Zustand des Einklangs befinden. Das Resultat dieser Untersuchungen ist, dass heute Zeitspannen, die Mutter und Kind nicht im Einklang miteinander verbringen, nicht mehr als für den Aufbau von Bindungsbeziehungen verlorene Zeit angesehen werden. Vielmehr stellte sich heraus, dass Zeitspannen des Nicht-Einklangs mit der Mutter für die Kinder ebenso wichtig sind wie Zeiten, in denen die Verbindung zwischen Mutter und Kind »synchronisiert« ist. Einklang und Nicht-Einklang sind schlicht die beiden unterschiedlichen Hälften eines Beziehungsganzen.
Babys werden von ihrer Geburt an neuronal darauf vorbereitet, dass ihr Einklang mit der Betreuungsperson unterbrochen werden kann. Und mehr noch: Babys unterbrechen den Einklang mit ihren Betreuern sogar selbst mehrmals pro Minute. Dies tun sie, um bei zu starker Erregung ihre Herzfrequenz und ihre Beziehung zu beeinflussen. Die Zeitspannen des Nicht-Einklangs mit der Betreuungsperson bereiten sie auf die Wiederaufnahme der positiven Beziehung zu ihr vor. 7
Sharon und Thomas
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