Intrige (German Edition)
salutiert. »Ihre Post, Herr Oberstleutnant. Haben Sie etwas, was abge schickt werden muss?«
»Danke. Nein, noch nicht.«
»Kann ich sonst etwas für Sie tun, Herr Oberstleutnant?« In der Bemerkung schwingt die Andeutung eines unsitt lichen Angebots mit.
»Nein. Sie können gehen.«
Mit leichtem Hüftschwung entfernt er sich. Ein junger Hauptmann nimmt die Zeitung herunter und glotzt ihm hinterher. Auch das ärgert mich: nicht die Tatsache, dass Henry und Gonse glauben, ich könnte mich verlocken lassen, mit einem Mann ins Bett zu gehen, sondern dass ich mich dazu verlocken ließe, mit einem Mann wie Savignaud ins Bett zu gehen.
Ich schaue meine Post durch. Ein Brief von meiner Schwes ter und einer von meinem Cousin Edmond sind von der Statistik-Abteilung geöffnet und dann mit verräterisch betonfestem Klebstoff wieder verschlossen worden. Wie mein Exilgenosse Dreyfus leide ich darunter, dass meine Korrespondenz überwacht, wenn auch nicht – wie in seinem Fall – tatsächlich zensiert wird. Als Teil der Fiktion, dass ich nur vorübergehend versetzt bin, sind auch ein paar weitergeleitete Agentenberichte dabei, die aber ebenfalls geöffnet wurden. Und dann ist da noch ein Brief von Henry. Seit meiner Abreise aus Paris vor einem halben Jahr haben wir oft Botschaften ausgetauscht, sodass mir seine schülerhafte Handschrift inzwischen vertraut ist.
Bis vor Kurzem haben wir in unseren Briefen einen freundlichen Ton gepflegt. (»Blauer Himmel und heiß, was einem nachmittags manchmal zu viel werden kann. Es geht natürlich nichts über Paris.«) Im Mai jedoch erhielt ich vom Oberkommando in Tunis den Befehl, mein Regiment für drei Wochen zu Schießübungen nach Sidi El Hani zu verlegen. Das hieß, wir mussten einen Tag nach Südwesten marschieren und dann in der Wüste ein Lager aufschlagen. Durch die Schwierigkeiten bei der Ausbildung der einheimischen Soldaten, durch die Ödnis der heißen, gesichtslosen, sich in alle Himmelsrichtungen erstreckenden Felslandschaft und vor allem durch die ständige Anwesenheit von Savignaud sah ich mich schließlich zu einem Protestbrief genötigt. Ich schrieb: »Mein lieber Henry, warum nicht in aller Öffentlichkeit ein für alle Mal zugeben, dass ich meiner Pflichten entbunden bin? Ich habe keinen Grund, deshalb beschämt zu sein. Was mich beschämt, sind die Lügen und mysteriösen Geschichten, die in den letzten sechs Monaten über mich verbreitet wurden.«
Wahrscheinlich habe ich den Brief mit Henrys Antwort Savignaud zu verdanken. Ich öffne ihn ziemlich gleichgültig, da ich mit den gewohnt beschwichtigenden Beteuerungen rechne, dass ich schon sehr bald nach Paris zurückkehren könne. Stattdessen könnte der Ton kaum kühler sein. Er habe die Ehre, mich über Folgendes in Kenntnis zu setzen: Eine Untersuchung innerhalb der Statistik-Abteilung habe ergeben, dass die einzigen in meinem Brief erwähnten myste riösen Geschichten die drei von mir selbst zu verantwortenden Vergehen seien, und zwar: ( 1 ) die Durchführung einer gesetzwidrigen Operation, die ohne Bezug zum Dienst gewesen sei; ( 2 ) die Verleitung von Offizieren des Dienstes zur Falschaussage, dass ein von einer bekannten Person stam mendes geheimes Dokument im Postamt beschlagnahmt worden sei; und ( 3 ) die Öffnung eines Geheimdossiers und die Sichtung seines Inhalts, was zu bestimmten Indiskre tionen geführt habe. Henry schließt sarkastisch: »Was das Wort Lügen betrifft, so konnte die Untersuchung nicht eruieren, wo, wie und auf wen dieses Wort Anwendung finden soll. Hochachtungsvoll, Henry.«
Und dieser Mann soll mein Untergebener sein! Der Brief ist datiert vom Montag, dem 3 1 . Mai, er wurde also vor einer Woche geschrieben. Ich schaue auf den Poststempel: Donnerstag, 3 . Juni. Ich vermute sofort, wie das abgelaufen sein muss. Henry hat den Brief geschrieben und dann auf die andere Straßenseite geschickt, damit Gonse seine Zustimmung erteilt, bevor er ihn versendet. Hinter Henrys unbeholfener Drohung steht also höchstwahrscheinlich die Macht des Generalstabs. Trotz der afrikanischen Hitze spüre ich kurz einen fröstelnden Schauer auf meiner Haut. Ich lese den Brief noch einmal. Dann lässt meine Furcht langsam nach und macht einer gewaltigen, sich steigernden Wut Platz – hochachtungsvoll? –, die ein derartiges Ausmaß erreicht, dass ich mich zusammenreißen muss, damit ich nicht laut losbrülle und gegen die Möbel trete. Ich stopfe mir die Post in die Hosentasche, setze die Uniformmütze
Weitere Kostenlose Bücher