Intrige (German Edition)
meinen Abgang nicht verpassen wollen. Wir nicken uns höflich zu.
Der Hauptmann und ich gehen zum Vordereingang des Hôtel de Brienne.
»Melden Sie Oberstleutnant Picquart für den Kriegsminister …«
Während wir die Marmortreppe hinaufgehen, erinnere ich mich daran, wie beflissen ich nach Dreyfus’ Degradierung hier hinaufgeeilt bin – der stumm im Schnee liegende Garten, Mercier und Boisdeffre, die sich am lodernden Kaminfeuer den Rücken wärmen, die zartgliedrigen Finger, die sachte den Globus drehen und auf die Teufelsinsel zeigen …
Auch diesmal ist Boisdeffre im Büro des Ministers. Er sitzt mit Billot und Gonse am Konferenztisch. Vor Billot liegt ein geschlossener Ordner. Die drei nebeneinandersitzenden Generäle geben ein finsteres Tribunal ab – ein Hinrichtungskomitee.
Billot streicht sich über seinen Walrossschnauzer. »Setzen Sie sich, Herr Oberstleutnant«, sagt er.
Ich gehe davon aus, dass sie mich für den durchgesickerten Bordereau verantwortlich machen wollen, aber Billot überrumpelt mich. Er kommt ohne Vorrede gleich zur Sache. »Wir haben einen anonymen Brief erhalten. Darin wird behauptet, dass man in Kürze Major Esterházy vor der Abgeordnetenkammer als Komplizen von Dreyfus bloßstellen wird. Haben Sie eine Ahnung, woher der Schreiber dieses Briefes die Information haben könnte, dass Esterházy unter Verdacht stand?«
»Nein.«
»Ich nehme an, dass ich Sie nicht darauf hinweisen muss, dass dies einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Vertrau lichkeit Ihrer Ermittlungen darstellt.«
»Natürlich nicht. Ich bin entsetzt, das zu hören.«
»Das ist untragbar, Herr Oberstleutnant!« Seine Wangen laufen rot an, die Augen quellen vor. Plötzlich ist er der cholerische alte General, den die Karikaturisten so lieben. »Erst wird die Existenz des Dossiers enthüllt! Dann erscheint ein Foto vom Bordereau auf der Titelseite einer Zeitung! Und jetzt das! Daraus können wir nur folgern, dass Sie sich in eine Obsession hineingesteigert haben, in eine gefährliche Fixie rung, mit Major Esterházy anstelle von Dreyfus, und dass Sie alles Erdenkliche tun, damit sie sich erfüllt, einschließlich der Weitergabe geheimer Informationen an die Presse.«
»Was für eine ärmliche Geschichte, Picquart«, sagt Boisdeffre. »Sehr ärmlich. Ich bin enttäuscht von Ihnen.«
»Ich versichere Ihnen, Herr General, dass ich niemand von meiner Untersuchung erzählt habe, und schon gar nicht Esterházy. Und ich habe nie irgendwelche Informationen an die Presse weitergegeben. Meine Untersuchung ist keine private Obsession. Ich bin einfach einer logischen Beweisspur gefolgt, und die hat mich zu Esterházy geführt.«
»Nein, nein, nein!« Billot schüttelt den Kopf. »Sie haben den ausdrücklichen Befehl missachtet, sich aus der Dreyfus-Geschichte herauszuhalten. Sie haben sich wie ein Spion in Ihrer eigenen Abteilung aufgeführt. Ich könnte Sie wegen Befehlsverweigerung sofort von einem meiner Ordonnanzoffiziere ins Gefängnis Cherche-Midi bringen lassen.«
Nach einer Pause meldet sich Gonse zu Wort. »Wenn es wirklich um Logik geht, Herr Oberstleutnant, was würden Sie sagen, wenn wir Ihnen einen wasserdichten Beweis dafür liefern, dass Dreyfus ein Spion war?«
»Einen wasserdichten Beweis würde ich natürlich akzeptieren. Aber ich glaube nicht, dass es einen solchen gibt.«
»Und da liegen Sie falsch.«
Gonse schaut zu Billot, der den vor ihm liegenden Ordner aufklappt. Anscheinend enthält er nur ein einziges Blatt Papier.
»Wir haben vor Kurzem via Agent Auguste einen Brief von Major Panizzardi an Oberstleutnant Schwartzkoppen abgefangen«, sagt Billot. »Die maßgebliche Passage lautet: ›Ich habe gelesen, dass ein Abgeordneter Fragen zu Dreyfus stellen wird. Falls man in Rom neue Erklärungen von mir verlangt, werde ich sagen, dass ich nie mit diesem Juden in Verbindung stand. Wenn jemand Dich fragen sollte, dann sage das Gleiche. Niemand darf jemals erfahren, was man mit ihm gemacht hat. Gezeichnet Alexandrine.‹« Befriedigt schließt Billot den Ordner. »Was sagen Sie dazu? «
Es ist natürlich eine Fälschung. Ich bewahre Haltung. Es muss eine Fälschung sein. »Wann genau haben wir das bekommen, wenn ich fragen darf?«
Billot schaut Gonse an. »Major Henry hat es vor zwei Wochen auf dem üblichen Weg erhalten«, sagt Gonse. »Es war in französisch. Er hat die Schnipsel wieder zusammengesetzt.«
»Könnte ich das Original sehen?«
Gonse muss sich im Zaum halten. »Wozu ist das
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