Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
auf und marschiere zur Tür. Obwohl ich vor Zorn außer mir bin, nehme ich die plötzliche Stille und die Blicke meiner Kameraden wahr.
    Ich stapfe nach draußen und renne dabei fast zwei Majore über den Haufen, die Zigarre rauchend auf der Veranda stehen, stapfe an der schlaff herunterhängenden Trikolore vorbei die Stufen des Klubhauses hinunter und dann über den breiten Boulevard in den Jardin de la Mer, wo die Regimentskapelle jeden Sonntagnachmittag vor der Gemeinde der Auslandsfranzosen mit vertrauten Melodien eine un melodische Parodie von Heimat zum Besten gibt. Hier bleibe ich stehen, um mich zu beruhigen. Die beiden Majore schauen mir aufrichtig bestürzt hinterher. Ich drehe mich um und gehe an dem Podium und dem defekten Springbrunnen vorbei durch den kleinen Park weiter in Richtung Meer und dann an der Hafenpromenade entlang.
    Monatelang bin ich mittags in den Militärklub gegangen und habe die nicht mehr aktuellen Zeitungen in der Hoffnung auf frische Enthüllungen im Fall Dreyfus durchgesehen. Vor allem habe ich darauf gesetzt, dass wahrscheinlich früher oder später jemand Esterházys Handschrift erkennen und sich direkt an die Familie Dreyfus wenden würde. Aber da war nichts: Der Fall wird nicht einmal mehr erwähnt. Als ich an den Fischerbooten vorbeigehe, mit gesenktem Kopf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, mache ich mir heftige Vorwürfe wegen meiner Feigheit. Ich habe es anderen überlassen, meine Pflicht zu erfüllen. Und jetzt glauben Henry und Gonse, dass mich das Exil so gebrochen, ihre Skrupellosigkeit mich so zerstört hat, dass sie mich bis zur völligen Unterwerfung einschüchtern können.
    Bei der Anlegestelle an der Südspitze des Kais, in der Nähe der alten arabischen Stadtmauer, befindet sich ein Fischmarkt. Ich bleibe kurz stehen und beobachte, wie ein Fang ausgeladen und auf die Verkaufstheke gekippt wird: Rotbarben, Meerbrassen, Seehechte, Makrelen. In einem Verschlag sehe ich ein halbes Dutzend Schildkröten, deren Maul mit Schnüren zusammengebunden wurde. Sie leben noch, aber man hat ihnen die Augen ausgestochen, damit sie nicht fliehen können. Es hört sich an wie klackernde Steine, wenn sie übereinanderkrabbeln und verzweifelt versuchen, wieder ins Wasser zu gelangen, das sie zwar noch riechen, aber nicht mehr sehen können.
    •
    Mein Quartier liegt im Militärlager auf der anderen Seite der Medina. Die einstöckige Ziegelhütte am Rand des Exerzierplatzes hat zwei Zimmer, deren Fenster mit Moskitonetzen verhängt sind, und eine Veranda mit zwei Stühlen, einem Tisch und einer Petroleumlampe. In der trägen Hitze des Spätnachmittags liegt der Exerzierplatz verlassen da. Als ich mich versichert habe, dass ich unbeobachtet bin, ziehe ich den Tisch an den Rand der Veranda, steige darauf und drücke einen losen Dachbalken zur Seite. Der große Vorteil eines unfähigen Spions und der Grund, warum ich nicht um Savignauds Ablösung gebeten habe, ist der, dass er Dinge übersieht, so wie jetzt. Ich schiebe die Finger in den Hohlraum, bis sie Metall berühren – eine alte Zigarettendose.
    Ich ziehe die Dose heraus, drücke den Balken wieder hinein, ziehe den Tisch wieder an seinen Platz und gehe in die Hütte. Das größere Zimmer dient als Wohn- und Arbeitsraum. Die Vorhänge sind zum Schutz gegen die Sonne zugezogen. Ich gehe durch den Raum ins Schlafzimmer, setze mich auf die Kante meiner schmalen Eisenpritsche und öffne die Dose. Sie enthält eine fünf Jahre alte Fotografie von Pauline und ein Bündel ihrer Briefe: Mein Liebling Georges … Mein geliebter Georges … Ich sehne mich nach Dir … Ich vermisse Dich … Ich frage mich, durch wie viele Hände sie gegangen sind. Sicherlich durch nicht so viele wie Dreyfus’ Briefe, aber ohne Zweifel viele.
    Ich bin mehrere Male in Deiner Wohnung gewesen. Es ist alles in Ordnung. Mme Guerault sagt, Du bist auf einer geheimen Mission! Manchmal liege ich auf Deinem Bett, und ich kann immer noch Deinen Duft auf dem Kissen riechen, und ich stelle mir vor, wo Du bist und was Du jetzt gerade tust. In diesen Augenblicken vermisse ich Dich am meisten. Ich liege im Licht des Nachmittags und könnte vor Sehnsucht schreien. Es sind körperliche Schmerzen …
    Ich muss sie nicht noch einmal lesen, ich kenne sie auswendig.
    In der Dose befinden sich auch eine Fotografie meiner Mutter, siebenhundert Francs in bar und ein Umschlag, auf den ich geschrieben habe: »Im Falle des Todes des Unterzeichneten soll dieser Brief dem

Weitere Kostenlose Bücher