Intrige (German Edition)
Präsidenten der Republik ausgehändigt werden. Der Inhalt darf nur ihm allein zugänglich gemacht werden. G. Picquart.« Im Brief steckt ein in sechzehn Teile gegliederter, umfassender Bericht über meine Nachforschungen in Sachen Esterházy, den ich im April geschrieben habe. Er führt detailliert alle Beweise auf, berichtet von den Versuchen Boisdeffres, Gonse’ und Billots, meine Ermittlungen zu sabotieren, und kommt zu drei Schlussfolgerungen:
1. Esterházy arbeitet als Agent für Deutschland.
2. Die einzigen konkreten Tatsachen, die man Dreyfus zur Last gelegt hat, sind Esterházy zuzuschreiben.
3. Der Prozess gegen Dreyfus wurde auf beispiellos oberfläch liche Weise mit der vorgefassten Meinung von Dreyfus’ Schuld und unter Missachtung der gebotenen Rechtsprinzipien durchgeführt.
Von den Minaretten der arabischen Stadt rufen die Muezzins die Gläubigen zum Asr-Gebet. Es ist die Tageszeit, wenn der Schatten eines Mannes doppelt so lang ist wie sein Körper groß. Ich schiebe den Bericht zurück in den Umschlag, stecke diesen in die Innentasche meines Uniformrocks und gehe wieder hinaus in die Hitze.
•
Früh am nächsten Morgen bringt mir Savignaud wie immer heißes Wasser ins Schlafzimmer, damit ich mich rasieren kann. Ich beuge den nackten Oberkörper zum Spiegel vor und beginne mich einzuseifen. Anstatt wieder zu gehen, drückt Savignaud sich hinter mir herum und beobachtet mich.
Ich schaue ihn im Spiegel an. »Ja, Soldat? Ist noch was?«
»Wie ich höre, haben Sie einen Termin bei General Leclerc in Tunis, Herr Oberstleutnant.«
»Brauche ich dafür Ihre Erlaubnis?«
»Ich habe mich nur gefragt, ob ich Sie nicht vielleicht begleiten soll.«
»Das ist nicht nötig.«
»Werden Sie zum Abendessen zurück sein?«
»Verschwinden Sie, Savignaud.«
Er zögert kurz, salutiert und schleicht sich aus dem Zimmer. Ich rasiere mich weiter, beeile mich aber. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er die Nachricht von meiner Fahrt nach Tunis auf der Stelle nach Paris telegrafieren wird.
Eine Stunde später stehe ich mit einem Koffer in der Hand auf dem Stadtplatz neben den Gleisen und warte. Die Bahnlinie von Tunis nach Sousse ist erst kürzlich von einer Minengesellschaft gebaut worden. Es gibt keinen Bahnhof, die Lokomotive fährt einfach durch die Straßen. Das erste Zeichen, dass sie sich nähert, ist eine schwarze Rauchsäule, die in der Ferne über den Flachdächern in den strahlend blauen Himmel aufsteigt. Dann kreischt eine Dampfpfeife, ein Haufen Kinder kommt um die Ecke gerannt und stürmt schreiend vor Begeisterung in alle Richtungen davon, gefolgt von einer Lok mit zwei flachen Güterwagen und drei Personenwaggons. Die Lok bremst ab und kriecht nur noch dahin, bis sie schließlich eine laut zischende Dampfwolke ausstößt und ganz stehen bleibt. Ich wuchte meinen Koffer in den Waggon, steige die Stufen hinauf und schaue mich um, ob mir jemand folgt. Aber ich kann keine Männer in Uniform entdecken, nur Araber, Juden und jede Menge Vieh – Hühner in Lattenkisten, ein Schaf und einen kleinen Ziegenbock mit zusammengebundenen Hufen, den sein Besitzer unter seinem Sitzplatz verstaut.
Wir fahren los und werden immer schneller, bis schließlich auch die letzten der uns eskortierenden Kinder nicht mehr mithalten können. Staub weht durch die offenen Fenster, während wir durch die eintönige Landschaft rumpeln – Olivenhaine und dunstige graue Berge zur Linken, das flache, glitzernde Mittelmeer zur Rechten. Etwa alle Viertelstunde halten wir an, um Gestalten aufzunehmen, die immer Tiere bei sich haben und jedes Mal wie aus dem Nichts schimmernd neben den Gleisen auftauchen. Ich schiebe eine Hand unter den Uniformrock und fühle die scharfen Kanten meines Briefs an den Präsidenten.
Als wir schließlich nachmittags in Tunis ankommen, drängele ich mich durch die Menschen auf dem überfüllten Perron zum Droschkenstand. Die schwüle Hitze der Stadt fühlt sich fast wie eine feste Masse an. Der Geruch von Ruß, Gewürzen – Kümmel, Koriander, Paprika –, Tabak und Pferdemist hängt in der Luft. Neben den Droschken ver kauft ein Junge La Dépêche tunisienne, die für fünf Cen times eine Zusammenfassung der aus Paris telegrafierten Nachrichten des Vortages enthält. Auf dem Weg zum Armeehauptquartier blättere ich die Zeitung durch. Weiterhin nichts über Dreyfus. Aber es liegt in meiner Macht, das zu ändern. Wie ein Anarchist seinen Sprengstoff, so berühre ich zum zwanzigsten Mal an diesem Tag
Weitere Kostenlose Bücher