Intrige (German Edition)
gerissen.
Zuletzt besuche ich Louis Leblois. Wieder wartet der Kutscher, und wieder bleibe ich im Flur vor der Wohnung stehen und verabschiede mich. Er ist gerade vom Gericht zurückgekommen und sieht meinen Kummer sofort.
»Ich nehme an, du kannst nicht darüber reden.«
»Nein, leider.«
»Wenn du mich brauchst, ich bin hier.«
Als ich wieder in die Kutsche steige, schaue ich die Rue de l’Université hinunter zu den Büros der Statistik-Abteilung. Das Gebäude ist ein trüber Fleck in der Dunkelheit. Mir fällt auf, dass etwa zwanzig Schritte hinter mir eine Kutsche mit der gelben Laterne vom Depot Poissonnière-Montmartre steht. Als wir losfahren, folgt sie uns, und als wir vor dem Gare de l’Est anhalten, bleibt sie in diskretem Abstand hinter uns stehen. Ich vermute, dass sie mir schon folgt, seit ich meine Wohnung verlassen habe. Sie gehen kein Risiko ein.
An einer Litfaßsäule vor dem Bahnhof hängt zwischen den Werbeanzeigen und den bunten Theaterprogrammen für die Opéra-Comique und die Comédie-Française ein Plakat, auf dem neben einer Kopie des Bordereaus aus Le Matin eine Handschriftenprobe von Dreyfus zu sehen ist. Nebeneinander sehen die beiden Handschriften sehr unterschiedlich aus. Mathieu hat auf eigene Kosten ganz Paris damit bepflastern lassen. Das war schnelle Arbeit! »Wo ist der Beweis?«, fragt die Überschrift. Für Hinweise, die zu dem Original führen, ist eine Belohnung ausgesetzt.
Er gibt nicht auf, bis sein Bruder entweder frei oder tot ist, denke ich, und während ich in dem überfüllten Zug Richtung Osten meinen Koffer in der Gepäckablage verstaue und mich auf meinem Platz niederlasse, gibt mir dieser Gedanke wenigstens etwas Hoffnung.
T EIL II
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Vom Militärklub in Sousse aus kann man durch eine Reihe staubiger Palmen, hinter der ein ungepflasterter Platz mit einer modernen Zollbaracke liegt, das Meer sehen. Das Glitzern des Golfs von Hammamet ist heute Nachmittag besonders gleißend, wie Sonnenlicht auf Blech. Ich muss mir die Hand über die Augen halten. Ein Junge in einem langen, braunen Gewand geht vorbei. An einem Strick zieht er eine Ziege hinter sich her. In dem grellen Licht verschwimmen die beiden Gestalten zu teerschwarzen Silhouetten.
Das Leben hinter den wuchtigen Ziegelmauern des Militärklubs macht keine Zugeständnisse an Nordafrika. Die Holzverkleidungen, die Polstersessel, die mit Quasten verzierten Stehlampen, alles sieht aus wie in jeder beliebigen Garnisonsstadt in Frankreich. Wie üblich sitze ich nach dem Mittagessen allein am Fenster, während meine Offizierskameraden vom 4 . Tunesischen Schützenregiment Karten spielen, vor sich hin dösen oder in den vier Tage alten französischen Zeitungen blättern. Keiner spricht mich an. Obwohl sie sorgsam darauf achten, mich mit der meinem Rang geschuldeten Ehrerbietung zu behandeln, halten sie Abstand – wer kann es ihnen verdenken? Irgendetwas kann mit mir nicht stimmen, irgendeine unsagbare Schande muss meine Karriere ruiniert haben. Warum sonst hätte man den jüngsten Oberstleutnant in der Armee in ein Loch wie dieses versetzt? Wie eine Schusswunde zieht das scharlachrote Band der Ehrenlegion auf dem himmelblauen Uniformrock meines neuen Regiments ihre faszinierten Blicke an.
Wie immer tritt um drei Uhr ein junger Ordonnanzoffizier durch die hohe, glasgetäfelte Tür und bringt mir die Nachmittagspost. Er ist ein hübscher Junge mit derbem Gassenjungenauftreten, ein Musiker aus der Regimentskapelle, den ich unter dem Namen Flavian-Uband Savi gnaud kenne. Er traf ein paar Tage nach mir in Sousse ein und ist, da bin ich mir ziemlich sicher, von der Statistik- Abteilung entsandt worden, um mir nachzuspionieren, und zwar mit Anweisungen von Henry oder Gonse. Es ist nicht so sehr das Spionieren, über das ich mich ärgere, sondern die stümperhafte Art, wie er es anpackt. Eigentlich sollte ich ihn mir vorknöpfen. Wenn Sie schon in meinen Habseligkeiten herumschnüffeln, dann legen Sie sie doch bitte wieder so zurück, wie Sie sie vorgefunden haben, müsste ich ihm sagen. Versuchen Sie sich einfach einzuprägen, wo was gelegen hat, bevor Sie anfangen. Und wenn Ihr Auftrag lautet, meine Post abzufangen, dann machen Sie sich doch wenigstens die Mühe, sie danach ganz normal in den Briefkasten zu werfen, anstatt sie dem Postbeamten persönlich in die Hand zu drücken. Ich bin Ihnen jetzt zweimal gefolgt, und beide Male haben Sie sich diese Schlamperei erlaubt.
Er bleibt neben meinem Sessel stehen und
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