Intrige (German Edition)
jenem Tag, als ich Mercier und Boisdeffre von der Degradierungszeremonie berichtet habe. Billot setzt sich mir gegenüber und schaut mich durchdringend an. Die Masche vom alten Knacker ist nichts als Schauspielerei. Er ist so scharfsinnig und ehrgeizig wie ein Mann, der nur halb so alt ist. Ich öffne die Wohltäter-Akte. »Leider hat es den Anschein, als hätten wir in der Armee einen deutschen Spion …«
»O Gott!«
Abermals schildere ich Esterházys Umtriebe und die Ope ration, die wir zu seiner Beschattung eingeleitet haben. Ich setze Billot etwas genauer ins Bild als Boisdeffre, vor allem erzähle ich ihm über die gerade in Basel laufende Befragung. Ich zeige ihm das Petit Bleu und die Überwachungsfotos. Aber ich erwähne mit keinem Wort Dreyfus. Ich weiß, dass das alles andere sofort zunichtemachen würde.
Billot stellt zwischendurch ein paar kluge Fragen. Wie wertvoll ist das Material? Warum ist Esterházys befehlshaben dem Offizier nichts Befremdliches an ihm aufgefallen? Können wir uns sicher sein, dass er allein operiert? Mehrere Male kommt er auf das Foto zu sprechen, auf dem Esterházy mit leeren Händen aus der Botschaft kommt. »Warum benutzen wir den Dreckskerl nicht für eine clevere Retourkutsche?«, sagt er schließlich. »Anstatt ihn einfach wegzu sperren, könnten wir ihn mit Falschinformationen für Berlin füttern.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Das Problem ist, die Deutschen trauen ihm auch schon nicht mehr über den Weg. Unwahrscheinlich, dass sie einfach schlucken würden, was er ihnen serviert, ohne es zu überprüfen. Und natürlich …«
Billot führt das Argument für mich zu Ende. »Und natürlich müssten wir ihm dafür, dass er mitspielt, Straffreiheit zusichern, obwohl es für Figuren wie Esterházy nur einen Aufenthaltsort gibt: den hinter Gittern. Nein, Herr Oberstleutnant, Sie haben richtig gehandelt.« Er schließt den Ordner und gibt ihn mir zurück. »Setzen Sie Ihre Ermittlung fort, bis wir ihn ein für alle Mal einkassieren können.«
»Sie wären bereit, den Fall bis vors Kriegsgericht zu bringen?«
»Durchaus! Was ist die Alternative? Ihn bei halbem Sold in den Ruhestand zu schicken?«
»General Boisdeffre wäre es lieber, wenn es keinen Skandal …«
»Gewiss, gewiss. Glauben Sie, mir gefällt das? Wenn wir ihn damit davonkommen ließen – das wäre wirklich ein Skandal.«
•
Ich gehe hochzufrieden in mein Büro zurück. Zwei der mächtigsten Männer der Armee haben abgesegnet, dass ich die Ermittlung fortsetze. Faktisch ist Gonse damit aus der Befehlskette ausgeschlossen. Jetzt kann ich nur noch auf Nachrichten aus Basel warten.
Der Tag zieht sich mit Routinearbeit hin. Die Abwasserkanäle stinken in der Hitze mehr als sonst. Ich kann mich kaum konzentrieren. Um halb sechs bitte ich Hauptmann Junck, für sieben Uhr eine Telefonverbindung mit dem Hotel Schweizerhof anzumelden. Zur ausgemachten Zeit stehe ich im ersten Stock neben dem Apparat im Korridor und rauche eine Zigarette. Beim ersten Klingeln reiße ich den Hörer von der Gabel. Ich kenne das Hotel Schweizerhof. Es ist ein großer, moderner Bau mit Blick auf einen Platz, den Trambahn linien kreuzen. Ich nenne dem Rezeptionisten Lauths Deck namen. Es entsteht eine lange Pause, während der Angestellte seinen Platz verlässt und nachprüft, ob Lauth in seinem Zimmer ist. Er meldet sich wieder und sagt, der Herr sei gerade abgereist, habe aber keine Nachsendeadresse hinterlassen. Ich lege auf und frage mich, was ich davon hal ten soll. Möglich, dass sie für die Befragung noch einen zweiten Tag brauchen und aus Sicherheitsgründen das Hotel gewechselt haben. Oder die Befragung ist schon abge schlossen und sie sind auf dem Weg zum Bahnhof, um den Nachtzug nach Paris zu erwischen. Ich warte noch eine Stunde in der Hoffnung auf ein Telegramm und mache dann Feierabend.
Zur Ablenkung wäre mir etwas Gesellschaft recht, aber es ist August, und anscheinend haben alle die Stadt verlassen. Die de Comminges haben ihr Stadthaus geschlossen und sind zu ihrem Sommersitz hinausgefahren. Pauline macht mit Philippe und den Töchtern Ferien in Biarritz. Louis Leblois ist zu Hause im Elsass bei seinem schwer kranken Vater. Ich leide unter einem ziemlich üblen Anfall von Weltschmerz, wie die Herren in der Rue de Lille das wohl nennen würden. Schließlich esse ich in einem Restaurant in der Nähe des Ministeriums allein zu Abend und gehe dann nach Hause, um Zolas neuen Roman zu lesen. Aber das Thema,
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