Intrige (German Edition)
Befragung von Cuers führen Sie durch! Auf deutsch, verstanden?« Dabei zeige ich energisch mit dem Finger auf ihn.
Diesmal schlägt Lauth tatsächlich die Hacken zusammen. »Ja, Herr Oberstleutnant.«
9
Am nächsten Tag um fünf Uhr nachmittags versammelt sich die mit festen Wanderstiefeln, Kniestrümpfen, Sportjacketts und Rucksäcken ausstaffierte Schweiz-Expedition im Entree. Vier Freunde auf Wandertour im Baselbiet, das ist die Tarnung. Henry steckt in einer unvorteilhaft groß karierten Jacke, seinen Filzhut ziert eine Feder. Es ist heiß, und beim Anblick seines übellaunigen, roten Gesichts muss man sich wundern, warum er so hartnäckig intrigiert hat, um an dieser Reise teilnehmen zu können.
»Mein lieber Major Henry, das ist ein bisschen zu viel der Verkleidung«, sage ich lachend. »Sie sehen ja aus wie ein Ti roler Kneipenwirt!« Auch Tomps, Vuillecard und sogar Lauth amüsieren sich köstlich, während Henry missmutig in die Ge gend schaut. Er teilt gern aus, kann es aber nicht ertragen, selbst auf den Arm genommen zu werden. »Schicken Sie mir aus Basel ein Telegramm«, sage ich zu Lauth. »Verschlüsselt natürlich, und lassen Sie mich wissen, wie das Treffen läuft und wann Sie wieder zurückkommen. Viel Glück, meine Herren. Also, ich würde Sie ja nicht in mein Land lassen, nicht in dem Aufzug. Aber schließlich bin ich auch kein Schweizer.«
Ich begleite sie zur Droschke, warte, bis sie eingestiegen sind und der Landauer außer Sichtweite ist, und mache mich dann zu Fuß auf den Weg zu meiner eigenen Verabredung. Ich habe jede Menge Zeit, den makellosen Spätsommernach mittag auszukosten. Ich spaziere am Seineufer entlang, vorbei an der großen Baustelle am Quai d’Orsay, wo am Fluss ein neuer Bahnhof und ein neues Grandhotel in die Höhe wachsen. Das erste große internationale Ereignis des 20. Jahr hunderts wird in knapp vier Jahren in Paris stattfinden – die Weltausstellung von 1 9 0 0. Auf dem gewaltigen Gebäudeskelett wimmelt es von Arbeitern. Die Energie, die in der Luft liegt, ist mit Händen zu greifen. Ja, man darf sogar behaup ten, dass so etwas wie Optimismus zu spüren ist – nicht gerade eine Geisteshaltung, die in den vergangenen Jahr zehnten in Frankreich weitverbreitet war. Ich schlendere am linken Ufer entlang und gehe auf den Pont de Sully, wo ich stehen bleibe, mich an das Geländer lehne und nach Westen in Richtung Notre-Dame schaue. Ich zerbreche mir immer noch den Kopf darüber, wie ich mich bei dem Treffen gleich am schlauesten verhalte.
So spielen die Wechselfälle des öffentlichen Lebens: General Boisdeffre, vor eineinhalb Jahren noch völlig im Schatten Merciers, hat sich zu einem der beliebtesten Männer Frankreichs gemausert. Seit drei Monaten kann man kaum eine Zeitung aufschlagen, ohne eine Geschichte über ihn zu lesen. Sei es als Leiter der französischen Delegation anlässlich der Zarenkrönung in Moskau, sei es als Zuschauer beim Grand Prix de Paris auf der Rennbahn Longchamp in Begleitung des rus sischen Botschafters. Russland, Russland, Russland – von nichts anderem ist die Rede. Boisdeffres strategische Allianz wird als der diplomatische Triumph der Epoche betrachtet. Ich persönlich habe allerdings Bedenken, zusammen mit einer Armee aus ehemaligen Leibeigenen gegen die Deutschen zu kämpfen.
Dennoch ist Boisdeffres Berühmtheit nicht zu leugnen. Da die Ankunftszeit seines Zuges in der Zeitung stand, treffe ich am Bahnhof als Erstes auf eine Schar seiner Bewunderer, die einen Blick auf ihn erhaschen wollen. Als der Zug aus Vichy schließlich in den Bahnhof rollt, laufen mehrere Dut zend Menschen auf der gesamten Länge des Perrons neben dem Zug her und versuchen ihr Idol zu entdecken. Schließlich taucht er in der Waggontür auf und bleibt für die Fotografen stehen. Er trägt Zivil, ist aber dennoch unverwechselbar. Die große, aufrechte Gestalt wirkt durch den schönen Seidenhut sogar noch erhabener. Er nimmt ihn höflich vor der applaudierenden Menge ab und tritt dann auf den Perron, gefolgt von Pauffin de Saint Morel und einigen anderen Ordonnanzoffizieren. Wie ein großes, imposantes Schlachtschiff bei einer Flottenparade bewegt er sich langsam auf das Absperrgitter zu, hebt immer wieder den Hut und lächelt schwach zu den Rufen »Es lebe Boisdeffre!« und »Es lebe Frankreich!« – bis er mich sieht. Sein Gesichtsausdruck verdunkelt sich kurz, er versucht sich zu erinnern, warum ich hier bin. Dann erwidert er meine Ehrenbezeigung mit einem
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