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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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der Faust auf den Tisch. »Warum haben Sie sich nicht ein bisschen mehr Mühe gegeben, ihn besser kennenzulernen?« Keiner der beiden sagt etwas. Lauth schaut auf den Boden, Henry starrt geradeaus. »Anscheinend konnten Sie es gar nicht erwarten, so schnell wie möglich wieder nach Paris zu kommen.« Sie wollen Einspruch erheben, aber ich falle ihnen sofort ins Wort. »Sparen Sie sich die Ausreden für Ihren Bericht auf. Das ist alles, meine Herren. Danke. Sie können gehen.«
    Henry bleibt an der Tür stehen. »Noch nie zuvor hat jemand meine berufliche Qualifikation infrage gestellt«, sagt er mit zitternder, gekränkter Stimme.
    »Nun, Herr Major, das überrascht mich sehr.«
    Nachdem sie gegangen sind, beuge ich mich vor und lege den Kopf in die Hände. Ich weiß, dass das ein entscheidender Augenblick ist, sowohl für mein Verhältnis zu Henry als auch für mein Kommando über die Abteilung. Sagen sie die Wahrheit? Könnte sein, nach allem, was ich weiß. Vielleicht hat Cuers nach Betreten des Hotelzimmers wirklich kein Wort mehr gesagt. Einer Sache bin ich mir allerdings sicher: dass Henry mit dem Vorsatz in die Schweiz gefahren ist, die Befragung zu sabotieren, dass er Erfolg damit hatte und dass er, wenn Cuers tatsächlich nichts gesagt hat, genau das beabsichtigt hat.
    •
    Zu den Akten, die an diesem Tag meine Aufmerksam keit verlangen, gehören die neuesten zensierten Briefe von Alfred Dreyfus, die wie üblich vom Kolonialministerium an mich weitergeleitet wurden. Der Minister möchte wissen, ob ich dazu vom geheimdienstlichen Standpunkt aus etwas anzumerken habe. Ich entferne die Schnur von dem Bündel, klappe den Deckel auf und beginne zu lesen:
    Ein düsterer Tag, es regnet unaufhörlich. Die dunkle Luft ist mit Händen zu greifen. Der Himmel so schwarz wie Tinte. Wahrhaft ein Tag für Tod und Begräbnis. Wie schon des Öfteren geht mir Schopenhauers Ausspruch zum Begriff der menschlichen Schuld durch den Kopf: »Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht der Gott seyn.« Von Cayenne ist die Post eingetroffen, aber anscheinend ohne Briefe für mich! Nichts zu lesen, keine Möglichkeit, meinen Gedanken zu entfliehen. Weder Bücher noch Zeitschriften erreichen mich noch. Um mein Gehirn ruhigzustellen und meine Nerven zu beruhigen, wandere ich den ganzen Tag herum, bis meine Kräfte erschöpft sind …
    Das Schopenhauer-Zitat springt mir förmlich ins Auge. Ich kenne es. Ich habe es selbst oft benutzt. Mir ist nie der Gedanke gekommen, dass Dreyfus philosophische Texte lesen, ganz zu schweigen davon, dass er blasphemische Gedanken hegen könnte. Schopenhauer! Es ist, als ob jemand, der schon lange meine Aufmerksamkeit zu erregen versucht, endlich zu mir durchgedrungen ist. Andere Passagen fallen mir auf:
    Tage, Nächte, sie sind alle gleich. Ich öffne nie meinen Mund. Ich bitte um nichts mehr. Wenn ich früher gesprochen habe, dann nur um zu fragen, ob Post oder keine Post für mich gekommen ist. Doch selbst diese Frage auszusprechen ist mir inzwischen verboten worden, oder jedenfalls, was das Gleiche ist, ist es den Wachen verboten, selbst auf solch alltägliche Fragen zu antworten. Ich hoffe, den Tag zu erleben, an dem die Wahrheit enthüllt wird, damit ich meinen Schmerz über die Qualen, die sie mir zufügen, laut hinausschreien kann …
    Und noch einmal:
    Ich verstehe, dass sie alle nur möglichen Vorkehrungen treffen, eine Flucht zu verhindern. Das ist das Recht, ich würde sogar sagen, die Pflicht der Regierung. Aber dass sie mich lebendig begraben, dass sie jeden Austausch mit meiner Familie unterbinden, sogar offene Briefe – das ist gegen jede Gerechtigkeit. Man könnte leicht auf den Gedanken kommen, um Jahrhunderte zurückgeworfen zu sein …
    Und auf der Rückseite eines zurückgehaltenen Briefes, mehr mals hintereinander, als versuchte er, es beim Schreiben auswendig zu lernen, ein Zitat aus Shakespeares Othello:
    Wer meinen Beutel stiehlt, nimmt Tand; ’s ist etwas
    Und nichts; mein war es, ward das Seine nun,
    Und ist der Sklav’ von Tausenden gewesen,
    Doch wer den guten Namen mir entwendet,
    Der raubt mir das, was ihn nicht reicher macht,
    Mich aber bettelarm.
    Beim Umblättern der Seiten komme ich mir vor, als läse ich einen Roman von Dostojewski. Die Wände meines Büros scheinen zu schmelzen. Ich höre das brausende Meer, das unablässig auf die Felsen unterhalb seiner Gefängnishütte kracht, das fremdartige Kreischen der Vögel und die einzigen Geräusche, die

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