Intrige (German Edition)
funktioniert, und ich ihm glatt zutraue, sich hinter meinem Rücken mit Henry kurzzuschließen; drittens und vor allem, weil Gonse, wenn ich mich der Rückendeckung des Generalstabschefs und des Kriegsministers versichere, sich nicht mehr einmischen kann und ich freie Hand habe, jeder Spur zu folgen, wohin sie mich auch führt. Auch ich kann gerissen sein: Wie sonst hätte ich es zum jüngsten Oberstleutnant in der französischen Armee gebracht?
Also nehme ich am Donnerstagmorgen, etwa um die Zeit, als die Gruppe in Basel erstmals Kontakt mit dem Doppelagenten Cuers aufnimmt, die Wohltäter-Akte und meinen persönlichen Schlüssel – das Symbol meines privilegierten Zugangs – und betrete durch die Holztür den Garten vom Hôtel de Brienne. Der Innenhof, der mir am Tag von Dreyfus’ Degradierung unter der Schneedecke wie verzaubert erschienen war, verströmt im August einen anderen Charme. Das Blätterdach der großen Bäume ist so dicht, dass das Ministerium dahinter fast verschwindet. Die entfernten Geräusche der Stadt klingen verschlafen, genau wie das Summen der Bienen. Bis auf einen alten Gärtner, der ein Blumenbeet gießt, bin ich allein. Während ich über die verbrannte braune Erde gehe, schwöre ich mir, sollte ich jemals Minister werden, dann werde ich meinen Schreibtisch im Sommer nach draußen bringen lassen und die Armee, so wie Cäsar in Gallien, unter einem Baum sitzend befehligen.
Ich erreiche den Rand des Rasens, überquere den Kieselweg und gehe die flachen, blassen Steinstufen zur Glastür hinauf, durch die man in den Amtssitz des Ministers gelangt. Ich betrete das Gebäude und gehe, vorbei an den Rüstungen und dem bombastischen Napoleon-Gemälde, dieselbe Marmortreppe hinauf wie schon zu Beginn meiner Geschichte. Ich stecke den Kopf durch die Tür des Vorzimmers und frage einen der Ordonnanzoffiziere, Hauptmann Robert Calmon-Maison, ob ich wohl kurz mit dem Minister sprechen könne. Calmon-Maison fragt erst gar nicht nach dem Grund, schließlich bin ich seines Herrn Geheimnisträger. Er verschwindet, kommt gleich wieder und sagt, ich könne sofort eintreten.
Wie schnell man sich doch an die Macht gewöhnt! Noch vor wenigen Monaten hätte ich nur voller Ehrfurcht im Allerheiligsten des Ministers vorgesprochen. Inzwischen ist es vor allem ein Arbeitsplatz, und der Minister selbst nur ein weiterer Soldatenbürokrat, den es durch die Drehtür der Regierungsbildung ins Amt befördert hat. Der gegenwärtige Amtsinhaber, Jean-Baptiste Billot, geht auf die siebzig zu und bekleidet zum zweiten Mal diesen Posten, den er vor vierzehn Jahren schon einmal innehatte. Er ist mit einer wohlhabenden und kultivierten Frau verheiratet und vertritt eine linke, radikale Politik, obwohl er wie der vertrot telte General aus einer komischen Oper aussieht – mächtiger Brustkorb, struppiger, weißer Schnauzbart und zornig hervorquellende Augen. Die Karikaturisten liegen ihm natürlich zu Füßen. Und ich weiß noch etwas über ihn, was von Interesse ist: Er hat eine Abneigung gegenüber seinem Vorgänger General Mercier. Und zwar seit den großen Armeemanövern von 1 8 9 3 , als der Jüngere das gegnerische Corps befehligte und ihn besiegte – eine Demütigung, die er nie verziehen hat.
Als ich eintrete, steht Billot mit dem Rücken zu mir am Fenster. Ohne sich umzudrehen, fängt er an zu sprechen. »Als ich Sie gerade über den Rasen habe gehen sehen, Picquart, da habe ich mir gedacht: Aha, unser brillanter junger Herr Oberstleutnant, der ärgert mich bestimmt wieder mit irgendeinem verdammten Problem! Und dann habe ich mich gefragt: Warum muss ich mich in meinem Alter noch mit solchen Dingen abplagen? An einem Tag wie heute sollte ich auf meinem Landsitz mit meinen Enkeln spielen und nicht meine Zeit mit Ihnen vergeuden!«
»Wir wissen doch beide, Herr Minister, dass Sie sich schon nach fünf Minuten tödlich langweilen und darüber beklagen würden, wie lausig wir das Land in Ihrer Abwesenheit führen.«
Er zuckt mit den mächtigen Schultern. »Tja, schätze, Sie haben recht. Irgendwer mit gesundem Menschenverstand muss ja ein Auge auf dieses Tollhaus haben.« Er dreht sich auf dem Absatz um und stapft schwankend über den Teppich auf mich zu. Ein beunruhigendes Bild für jemand, der es nicht gewohnt ist. Er sieht aus wie ein angreifender Walrossbulle. »Also dann, worum geht es? Sie sehen angespannt aus. Setzen Sie sich, mein Junge. Was zu trinken?«
»Nein danke.« Ich nehme denselben Stuhl wie an
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