Intrige (German Edition)
die tiefe Stille der tropischen Nacht durchbrechen, das Rascheln der giftigen, im Gebälk her umwuselnden Seespinnen und die stampfenden Stiefel der Wachmänner auf dem Steinboden. Ich spüre die mit feuchter Hitze vollgesogene Luft und das Jucken der entzündeten Moskito- und Ameisenstiche, die bohrenden Magenkrämpfe und stechenden Kopfschmerzen. Ich rieche den modrigen Geruch seiner Kleidung und seiner durch Feuchtigkeit und Insekten zerstörten Bücher, den Gestank der Latrine und den blassweißen Rauch der Kochstelle aus nassem, grünem Holz, der sich überall festsetzt und einem das Wasser in die Augen treibt. Aber was vor allem an mir zehrt, das ist seine Einsamkeit. Die Teufelsinsel ist zwölfhundert Meter lang und an ihrer breitesten Stelle vierhundert Meter breit. Die Oberfläche beträgt gerade einmal ein sechstel Quadratkilometer. Sie zu kartografieren würde nicht lange dauern. Ich frage mich, ob er sich daran erinnert, was ich ihm beigebracht habe.
Nachdem ich die Briefe gelesen habe, schreibe ich eine Nachricht an den Kolonialminister, in der ich ihn darüber informiere, dass ich nichts anzumerken habe.
Ich lege die Notiz in den Ausgangskorb, lehne mich in meinem Schreibtischsessel zurück und denke über Dreyfus nach.
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Ich war fünfunddreißig, als ich an der École Supérieure de Guerre Dozent für Topografie wurde. Da ich die Stelle annahm, obwohl ich schon Bataillonskommandeur in Besançon war, hielten mich einige Freunde für verrückt, aber ich erkannte die Chance: Paris ist schließlich Paris und Topografie die elementare Wissenschaft des Krieges. Könnte N von einer Batterie in A unter Feuer genommen werden …? Liegt der Friedhof in Dorf Z in Feuerreichweite von einer Batterie in G …? Könnte auf dem Feld direkt östlich von N ein Feldposten postiert werden, ohne von dem feindlichen Vorposten in G gesehen zu werden? Ich brachte meinen Studenten bei, wie man Entfernungen misst, indem man seine Schritte zählt (je schneller man geht, desto genauer); wie man mit einem Messtisch oder Prismenkompass ein Ge lände vermisst; wie man mit einem roten Stift und mit hilfe von Watkins Neigungsmesser oder Fortins Quecksilberbarometer die Umrisse eines Hügels zeichnet und diese Zeichnung plastischer macht, indem man grüne oder blaue Kreide, die man von einem Stift abkratzt, mit Rot vermischt und so die Verlauftechnik bei Aquarellen nachahmen kann; wie man einen Taschensextanten, Theodolit und Winkelmesser benutzt; wie man von einem unter Beschuss liegenden Hügelsattel eine exakte Darstellung anfertigt. Und einer der Studenten, denen ich diese Fertigkeiten beibrachte, war Dreyfus.
So angestrengt ich auch nachdenke, ich kann mich nicht an unsere erste Begegnung erinnern. Von meinem Vorlesungspult schaute ich Woche für Woche in dieselben etwa achtzig Gesichter, und erst allmählich lernte ich das seine von den anderen unterscheiden: ein schmales, blasses, ernstes Gesicht mit kurzsichtigen Augen hinter einem Kneifer. Er war erst dreißig, aber mit seinem Lebensstil und Auf treten wirkte er viel älter als seine Altersgenossen. Er war ein Ehemann unter Junggesellen, ein Mann mit Vermögen unter Männern, die ständig knapp bei Kasse waren. Abends, wenn es seine Kommilitonen in die Bars zog, ging er nach Hause in seine elegante Wohnung zu seiner reichen Frau. Er war das, was meine Mutter einen »richtigen Juden« nannte, womit sie Dinge wie neues Geld, Ellbogen, sozialen Aufstieg und eine Neigung zu kostspieligem Auftritt verband.
Zweimal lud Dreyfus mich zu Wohltätigkeitsveranstaltungen ein: einmal zum Abendessen in seine Wohnung in der Avenue du Trocadéro, dann zu einer, wie er es nannte, hochkarätigen Jagdgesellschaft in einem Revier, das er in der Nähe von Fontainebleau gepachtet hatte. Beide Male sagte ich ab. Ich machte mir nicht viel aus ihm, zumal als ich auch noch erfuhr, dass der Rest seiner Familie sich dafür entschieden hatte, im besetzten Elsass zu bleiben, und dass sein Geld aus Deutschland stammte. Blutgeld, dachte ich. Als ich ihm am Ende eines Semesters die seiner Meinung nach verdiente gute Note in Kartografie verweigerte, stellte er mich tatsächlich zur Rede.
»Gibt es etwas, womit ich Sie beleidigt habe?« Seine Stimme war das Unangenehmste an ihm. Sie war nasal und mechanisch und hatte etwas von dem schrillen Klang des in Mülhausen gesprochenen Deutschs.
»Überhaupt nicht«, sagte ich. »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen mein Notenschema zeigen.«
»Es ist nur so,
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