Intrusion
Sie dachte an den Meuchelmörder, überlegte, was sie alles mit ihm machen könnte, wenn es ihr gelänge, ihn zu beherrschen, oder was er ihr antun könnte, wenn es ihr nicht gelänge. Sie sah seine Augen, die Züge, die an eine aus Holz geschnitzte Maske erinnerten, die geschmeidigen Bewegungen seiner langen Beine, seine schamlose Art, sich mit dem Tod zu schmücken, als wäre er ein Kleidungsstück, oder seinen Schatten, der aus den Poren aufstieg, anstatt hinter ihn zu fallen.
Ja, sie wusste, was sie mit ihm machen würde. Muse, tot, langsam, qualvoll. Als ihr seine Botschaft klar geworden war, hätte sie um ein Haar losgelacht. Wir werden miteinander reden, wenn ich sicher bin, dass du mein Leben nicht in Gefahr bringst, hatte sie zu ihm gesagt. Die Klinge, die er nach ihr geworfen hatte, war seine Antwort gewesen. Du bist nicht in Gefahr. Ich könnte dich jederzeit töten, auch jetzt, in diesem Moment. Pass auf! Sie erschauerte bei der Erinnerung an das Messer, das mit einem leisen Pfeifen ihre Haarsträhne durchtrennt und sich dann mit einem dumpfen Schlag in den Baumstamm vor ihr gebohrt hatte.
Ein Geräusch ließ sie mit einem Ruck verharren. Ihre Instinkte – durch das Leben im Freien geschärft – witterten Gefahr. Sie holte das Licht zurück und dämpfte es, bis es nicht mehr als ein schwacher Schimmer auf ihrer Haut war.
Die Wälder verstummten, während sie den Atem anhielt, als hätten sich alle Augen der Wildnis dem Geräusch zugewandt, um wie sie Ausschau nach der unbekannten Gefahr zu halten. Es hatte wie das schmerzerfüllte Wimmern einer Maschine geklungen, wie das Klagen einer elektrischen Stimme. Da war es wieder: Uuu-ahhh. Der Schrei einer Geistermaschine, der sich an den Stämmen brach und einen Hauch von Krankheit und Verwesung verbreitete. Charm zog die Kapuze tiefer ins Gesicht. Der Schrei wand sich wie Rauch zwischen den Bäumen hindurch und streifte die Äste mit seinem fauligen Atem. Es war ein Laut, wie sie ihn noch nie aus der Kehle eines Naturgeschöpfs vernommen hatte.
Charm wich zwei Schritte zurück, ehe sie bemerkte, dass sie nicht weit von der Lichtung entfernt war, auf der Muse jene Porträts aufgestellt hatte, jene höllischen Porträts. Der Schrei kam von dort her. Die Stille, die sie plötzlich umgab, ließ darauf schließen, dass inzwischen alle Waldbewohner die Flucht ergriffen hatten. Charm stöhnte innerlich. Der Wald hatte ihr immer Schutz geboten, war für sie eine Art Heimat geworden. Dass sich nun Verderben darin ausbreitete, schmerzte sie. Und ihr kam der Gedanke, dass sie diese Heimat erst jetzt, angesichts dieses unbekannten Grauens, als etwas Kostbares empfand.
Sie rannte auf Muses Lichtung zu, bevor ihr zu Bewusstsein kam, dass sie sich in Bewegung gesetzt hatte. Heißer Zorn verdrängte jegliche Furcht. An die zweihundert Schritte legte sie so zurück, ehe sie anhielt, sich keuchend an einen Doppelstamm lehnte und in die mondbeschienene Lichtung starrte. Ein Summen wie von pulsierender Elektrizität drang an ihr Ohr. Eines der Porträts lag mit der Bildseite nach oben mitten auf der freien Fläche. Etwas stemmte sich mit plumper Gewalt hoch. Es sah aus wie der Rumpf eines Mannes, der aus einer Grube stieg. Zwei Arme kamen frei, Hände krallten sich im Boden fest, rissen Erdbrocken heraus.
Es war das skizzenartigste Gemälde, das Muse auf der Lichtung abgestellt hatte – eine schemenhafte Gestalt in einem dunklen Umhang, das Gesicht verborgen bis auf die Andeutung mehrfarbiger Augen, die in einem tiefen schwarzen Schattensee unter der Kapuze leuchteten. Inmitten der anderen, sorgfältiger ausgearbeiteten Schreckensszenen wirkte seine Vereinfachung irgendwie bedrohlich und real. Nun richtete das Ding sich auf. Es besaß allem Anschein nach den Körper eines Mannes, war aber so hager und so groß, dass es ansonsten wenig mit einem Menschen gemein hatte. Sein Umhang teilte sich, als es einen Arm hob und mit den schwarz behandschuhten Fingern des anderen Arms auf seine Festigkeit hin abtastete. Was Charm unter dem halb geöffneten Umhang sah, war ein Knochengerüst, dunkler noch als Kohle – die Farbe der Leere, aber irgendwie sichtbar : das Gegenteil von Licht und doch mit einer gleichen Wirkung. Im Grunde konnte es nicht sein, dass man die Rippen und die Knochen dahinter Schicht um Schicht deutlich erkannte. Das Ding legte den Kopf weit in den Nacken und stieß ein Heulen aus.
Der Laut breitete sich aus wie eine Druckwelle und trieb sie zurück. Das Ding
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