Invasion 06 - Callys Krieg
gelebt oder so, bloß ohne die weißen Staketenzäune – kleinstädtisches Amerika, wie Disney versucht hatte, es zu kopieren, was ihm aber nicht ganz gelungen war. Alles schien so rein und sauber, dass sie ständig damit rechnete, gleich an einer Reihe kleiner, sauberer Holzhäuser vorbeizufahren und dann beim Blick in den Rückspiegel zu erkennen, dass es sich um die falsche Fassade einer Filmkulisse handelte. Sie duckte sich unwillkürlich beim Fahren über das Steuer, als ob sie, wenn es wirklich einen solchen Ort gab, hier nichts verloren hätte.
Sie aß unterwegs etwas und hielt schließlich vier Stunden später an einem kleinen Hotel neben der US 30 an. Ein leicht metallischer Geschmack lag in der Luft, der vertraute Geruch von Sand, der aber einen Augenblick lang fremdartig wirkte, weil ihm sowohl die Salzluft von Charleston wie auch die schwüle Hitze jener Stadt fehlten und weil da buschige Bäume mit silbernem Blattwerk standen, die sie seit Kentucky immer wieder gesehen hatte. Mehr Busch als Baum, fand sie. Sie checkte ein und stellte den Wecker auf ihrem PDA, um früh genug wach zu werden, um am nächsten Morgen nach Chicago zu kommen und dort mit den ersten Ermittlungen zu beginnen.
Freitag, 17. Mai
Es war vier Uhr morgens, als sie elektronisch ihre Maut bezahlte, was eigenartigerweise anonymer war, als beim Barbezahlen an einem der Mauthäuschen fotografiert zu werden – was dazu geführt hätte, dass ihr Gesicht geradewegs ins Netz wanderte – und rollte auf die 80/94 nach Chicago. Sie hatte einmal gehört, dass das Vorkriegs-Chicago mautfreie Straßen gehabt habe. Heute waren alle wichtigen Verkehrsadern mautpflichtig, es sei denn, man hatte Diplomaten- oder Behördennummernschilder.
Selbst um diese frühe Stunde herrschte Verkehr, wenn auch nicht sonderlich dicht. Der dunstige Himmel ließ die Morgendämmerung flach und grau erscheinen. Sie konnte die Feuchtigkeit des Michigan-Sees riechen, obwohl die Lärmbarrieren und die Unfallschutzwälle den größten Teil der Umgebung verdeckten, sodass man eigentlich nur die Straße selbst sowie Heide und Binsen sehen konnte.
Das Profil sah vor, dass sie sich an der Ecke der Delaware /Michigan im Fleet Strike Tower einquartierte. Die meisten Geschäfte hatten noch nicht geöffnet, nicht einmal in der Innenstadt, aber in einem rund um die Uhr geöffneten Lebensmittelladen konnte sie sich ein Notizheft mit dem Aufdruck Art Institute of Chicago, einen Bleistiftspitzer sowie eine Schachtel Bleistifte kaufen. Sie brauchte keine Viertelstunde auf dem Parkplatz, um das Heft ein wenig zu zerfleddern, damit es einigermaßen benutzt aussah. Heutzutage konnte man sich sämtliche Lehrbücher downloaden, und ihr Skizzenblock wurde im ganzen Land verkauft – also konnte er von jeder beliebigen Kunstakademie stammen. Es dauert nicht lange, um sich elektronisch das augenblicklich gültige Buch über Kunstgeschichte zu besorgen, und damit war Marilyns Übertritt in das Art Institute nur umso realistischer.
Um sechs Uhr hatte sie den Wagen in einer Selbstparkergarage untergebracht und saß bei einer Tasse Kaffee an einem Tisch im Hof gegenüber dem Haupteingang des
Fleet Strike Tower; sie beobachtete die Leute, die dort aus-und eingingen, und skizzierte gelegentlich eine der Personen in kubistischer Manier. Es gibt keine unauffälligere Art, Leute zu beobachten, als wenn man Künstler ist. Man erwartet von uns, dass wir Leute beobachten. Wer hätte gedacht, dass Schwester Theodosias Hobby sich im Laufe der Jahre als so nützlich erweisen würde?
Aus Sicherheitsgründen war der Eingang am Nordteil des Tower der einzige, der ständig in Benutzung war. Da sie so früh dran war, war die Plaza fast leer, wenn man einmal von einem Sergeant von Fleet Strike absah, der sich eine Tasse Kaffee und eine Zigarette genehmigte und sein AID vor sich auf dem Tisch stehen hatte, vermutlich mit der Morgenzeitung. Gelegentlich forderte er es auf, umzublättern oder einen anderen Artikel zu suchen.
In den Geruch von frischem Kaffee und Gebäck mischten sich Auspuffgase, kalter Beton, Asphalt und der von morgendlicher Kühle. Das Rauschen des Springbrunnens überdeckte die Verkehrsgeräusche, aber jetzt, am Morgen, war es noch ruhig genug, dass sie das Schaben ihres Bleistifts hören konnte, während ihre Hände automatisch Schattierungen einfügten. Irisierende graue Tauben flatterten hoffnungsfroh auf den Granitfliesen vor dem Café herum, wichen gelegentlich einem Fußgänger aus
Weitere Kostenlose Bücher