Irgendwann Holt Es Dich Ein
ihn mitgenommen. Sie wollte ihn sofort zur Polizei bringen. Die Frau war eine Witwe in mittleren Jahren mit erwachsenen Kindern. Sie war Klavierlehrerin, betreute eine Pfadfindergruppe und galt als echte Stütze der Gemeinde. Und sie war einsam. Der kleine Junge hatte sich vertrauensvoll von ihr an die Hand nehmen lassen, und so kam es, dass sie mit ihm bei sich zu Hause landete. Sie gewann den Jungen lieb und sorgte für ihn, wusste aber natürlich, dass sie ihn nicht behalten durfte.
Es war eine traurig-schöne Geschichte mit einem unerwartet glücklichen Ende für Christine und ihren Mann. Ihr kleiner Sohn war nicht zu Schaden gekommen. Die Frau, die ihn zu sich genommen hatte, durchlief zurzeit psychiatrische Tests, und die aus ihnen resultierenden Gutachten würden das Urteil mitbestimmen. Nach fast einem Jahr hätte alles wieder gut sein sollen. War es aber nicht.
Christine - »nennen Sie mich Chrissie« - war eine hübsche, füllige Frau in den Mittdreißigern, die sich für die Fernsehkameras eines dieser bunten tunikaartigen Oberteile angezogen hatte, die das Dekolleté betonten. Sie machte Neil eine Tasse starken Tee und führte ihn im Haus herum. Neil und sein Produktionsteam hatten Chrissie dazu gebracht, sich für das Interview mitten im Kinderzimmer ihres Sohnes aufzustellen. Die Kamera filmte das überall verstreute Spielzeug und den inzwischen berühmten Steiffteddy, der auf dem Bett saß. Als Neil behutsam nachfragte - halb unbewusst sprach er in seinem freundlichen Yorkshire-Akzent -, hatte Chrissie sich ihm langsam aber sicher geöffnet. Ungeweinte Tränen schwammen in ihren Augen, als sie erzählte, wie angespannt ihr Eheleben sei und wie sehr die Kinder in der Schule litten. Sie erzählte, wie es sei, als Mutter auf dem Prüfstand zu stehen und sich zu fühlen, als habe man bei seinem Kind versagt. Sie berichtete auch, dass sie immerfort versuche, mit der Frau mitzuhalten, die ihren Sohn so hübsch angezogen und so gut für ihn gesorgt hatte.
Neil konnte es gar nicht erwarten, die Aufnahmen zu sehen. Er wusste, dass es eine wunderbare Sendung werden würde - eine zu Herzen gehende, facettenreiche Geschichte, die fast jeden rühren würde, der sie sich ansah. Wenn er binnen weniger Stunden so viel emotionale Offenheit bei einer Frau erreichen konnte, die er nie zuvor gesehen hatte, wie kam es dann, dass es so schwierig war, mit seiner Frau zu reden? Nun ja, mit seiner entfremdeten Frau, musste man wohl der Ordnung halber hinzufügen.
Seine eigene Frau jedenfalls hatte eines der schrecklichsten Erlebnisse gehabt, die man sich überhaupt vorstellen konnte. Und dennoch wollte sie nicht mit ihm darüber sprechen. Nachdem Kate dieses surreale Radiointerview gegeben hatte, war Neil überzeugt gewesen, dass es etwas gab, was sie ihm erzählen wollte, ihm erzählen musste.
Neil war ziemlich sicher, dass sie zu diesem Zeitpunkt drauf und dran gewesen war, ihm die ganze Geschichte über diese Hattie zu erzählen. Vielleicht hatte sie auch bloß erzählen wollen, wie es dazu kam, dass sie mit ihr auf dem falschen Bahnsteig landete. (Denn was hatte Kate auf einem Bahnsteig in Richtung Edgware zu suchen? Das war ihm nach wie vor ein Rätsel.) Aber nichts geschah. Es gab keine Erklärungen, gar nichts. Alles, was er von Kate bisher gehört hatte, war das unzusammenhängende Gestammel am Telefon gewesen, mitten in der Nacht. Danach folgte jener kalte, klinisch sachliche Bericht, den er mit angehört hatte, als sie mit ihrem Sender telefonierte. Mit ihm hatte sie immer noch nicht gesprochen, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Er hatte wirklich sein Bestes getan, sie zum Reden zu bringen. Sie hatte gesagt, dass sie zurück ins Bett müsse, worauf er nach ihrer Hand griff und bat: »Bleib. Nur kurz. Bleib und rede mit mir!«
Doch Kate hatte nur die Augen geschlossen, den Kopf geschüttelt, ihre Hand zurückgezogen und war aus der Küche gegangen. Den Rest des Tages war sie in ihrem Bett geblieben, und hier saß er nun und versuchte immer noch herauszufinden, was los war, und vor allem zu ergründen, ob Kate wollte, dass er blieb. Er wurde nicht mehr schlau aus ihr. Neil war nicht sicher, ob Kate inzwischen bereute, ihn angerufen zu haben. Warf sie sich jetzt womöglich vor, dass sie ihn um Hilfe gebeten hatte?
Fakten, die brauchte er. Wenn er schon keine Gefühle haben konnte, musste er halt mit Fakten vorliebnehmen. So fing er jede Story an. Man grub so viele Informationen wie möglich aus, jede noch
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