Irgendwann Holt Es Dich Ein
Nachruf von der BBC sowie Trauerbekundungen von den Kollegen der Serie Lawyers, man würde über den Preis des Ruhmes spekulieren, und dann, in ein paar Wochen, wäre alles wieder vergessen.
Es sei denn, Neil beschloss, der Geschichte später noch einmal nachzugehen. Diesen Gedanken wollte er jedoch vorerst weit von sich schieben. Hier ging es um eine frühere Freundin seiner Frau. Und dennoch: Etwas an der Story reizte ihn, und das hatte mit Lady Jane Grey zu tun, der piekfeinen Mädchenschule, die Kate besucht hatte. Warum sollte sich eine erfolgreiche Schülerin einer der berühmtesten Eliteschulen Großbritanniens vor die U-Bahn werfen? Bis heute fand Neil es fast unvorstellbar, dass Kate auf der Lady Jane Grey gewesen war. Bevor er nach Oxford kam, hatte Neil nie von der Schule gehört, doch dann schienen die Lady-Jane-Grey-Schülerinnen - Janeites, wie sie offenbar genannt wurden - plötzlich überall zu sein. Aber vielleicht übertrieb er auch. Nicht jedes auffallend selbstbewusste Mädchen mit langem honigblondem Haar, dem er auf seinem College begegnete, hatte zwangsläufig die berühmte Nordlondoner Schule besucht, auch wenn es ihm so vorgekommen war. Sie waren sich alle ziemlich ähnlich gewesen. Auf den ersten Blick wirkten sie wie klassische Sloanes, Trendsetterinnen aus gutem Hause, denen alles in den Schoß fiel, nur dass sie sich gewöhnlich als sehr viel klüger oder vielleicht auch nur akademisch gefestigter erwiesen, als man erwartet hätte. Diese Mädchen - jedenfalls die, die Neil gekannt hatte - waren nahezu erdrückend selbstbewusst. Wie sie sich mit einer Hand das Haar aus der Stirn hielten, während sie in Seminaren und Tutorien ihre Ansichten vortrugen! Kein Zögern, kein Bangen um die richtige Formulierung oder die korrekte Aussprache. Neil, das gescheite Arbeiterkind von der Gesamtschule in Süd-Yorkshire, war von ihrem Selbstvertrauen und ihrer Kompetenz geplättet gewesen.
Er hatte sogar mal mit einem Mädchen von der Lady Jane geschlafen, lange bevor er Kate kennenlernte, aber das hatte er ihr nie erzählt. Er hatte befürchtet, sie würde das Mädchen kennen, das wenige Jahre über ihr gewesen sein musste. Sie hieß Camilla - natürlich, wie sonst? - und war mit ihm in Oxford, wo sie für ihr College Tennis spielte. Neil erinnerte sich noch, wie überrascht er war, als er erfuhr, dass es an seinem College eine eigene Tennismannschaft gab. Er lernte sie in einem kleinen Pub in Oxford kennen, wo noch traditionell gebrautes Ale ausgeschenkt wurde. Das Lokal hatte er mit seinen Freunden entdeckt. Eines Abends kam eine Gruppe von fünf oder sechs piekfeinen Mädchen herein. Camilla sah, was die Jungen tranken, und begann pintweise Ale in sich hineinzuschütten, als wäre es ein exotisches Spiel. Sie war für jeden Spaß zu haben und erwies sich als ausgesprochen trinkfest, was in Neils damaliger Lebensphase bei einer Frau einen besonderen Reiz darstellte. Später waren sie und Neil zurück zu ihrem Zimmer getorkelt, wo über allen Stühlen und Lampenschirmen dünne Tücher drapiert waren. Im Bett konnte Camilla total versaut sein. Mit demselben Schmollmund, aus dem sonst die eloquentesten Sätze sprudelten, tat sie Dinge, von denen Neil bis dahin nur geträumt hatte.
Als Neil nach ein paar vergeudeten Jahren in der Stadt ans College kam, um Rundfunkjournalismus zu studieren, hatte sich sein Frauengeschmack geändert. Nun ertappte er sich auf einmal dabei, dass er die zugeknöpfte, äußerst strebsame, schmale, aber hübsche Kate Small bewunderte, ja, geradezu anbetete. Sie kennenzulernen war alles andere als leicht gewesen. Sie trank nicht und ging folglich nie ins Pub. Immerzu lernte sie, und wenn sie gerade nicht in Vorlesungen und Seminaren saß, joggte sie, büffelte in der Bibliothek oder war im Produktionsstudio, um Extra-Aufgaben zu erledigen. Schließlich gelang es Neil, ein Projekt zu ergattern, bei dem er mit ihr zusammenarbeiten sollte. Bei strömendem Regen saßen sie in seinem Wagen vor dem Haus eines Mannes, den sie interviewen wollten - den Leiter eines örtlichen Kinderheims, der wegen eines Skandals geschasst worden war, soweit Neil sich erinnerte. Sie kamen sich ein bisschen vor, als würden sie den Mann observieren. Während sie über dies und jenes redeten, landeten sie irgendwie bei dem Thema, wie Neil nach Oxford gekommen war und wie komisch und deplatziert er sich in seinem ersten Jahr gefühlt hatte. Darauf sagte Kate mit ihrer allzeit ruhigen, geschmeidigen,
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