Irgendwann Holt Es Dich Ein
so nichtige Kleinigkeit, die sich als wichtig erweisen konnte. Und dann konnte man losziehen und Leute finden, die man befragte, bei denen man sozusagen die richtigen Knöpfe drückte, damit sie einem die Antworten lieferten. Nur war das hier keine Befragung, bei der er Knöpfe drücken wollte. Hier ging es um seine Frau, und er wollte sie zum Reden bringen - um ihr zu helfen. Gleichzeitig ahnte er, dass diese Situation ein Wendepunkt für sie beide sein könnte. Falls er sie dazu bringen konnte, über ihr Erlebnis zu reden, sich an ihn zu lehnen und ihm zu vertrauen, fanden sie vielleicht wieder zueinander zurück.
Wer in aller Welt war Harriet »Hattie« Fox? IMDb, die Internet Movie Database, schien ihm ein guter Ausgangspunkt zu sein. Leider war das, was dort auftauchte, erbärmlich spärlich. Für eine Schauspielerin von Ende dreißig hatte sie verblüffend wenige Filmverweise: ein paar Rollen in Low-Budget-Filmen der Achtziger und Neunziger, gefolgt von Gastauftritten in Arzt- oder Krimiserien wie Casualty oder The Bill, wie sie fast jeder Schauspieler in Großbritannien hatte. Rollennamen wie »Georgina« oder »Lavinia« legten nahe, dass sie gern als »arrogante Zicke« gecastet wurde. Es gab eine Nebenrolle in einer Sonntagabendserie, die in einer fiktiven Kleinstadt spielte, irgendwo im ländlichen, herzerwärmenden England, das die Macher von Fernsehserien so gern zum Schauplatz wählten. Seit Hattie bei Lawyers mitspielte, war sie gerade mal für einen Preis nominiert worden: »Beste Zicke« in einer dieser fragwürdigen Abstimmungen, die Fernsehzeitschriften veranstalteten. Das Interessanteste an ihrer Biographie waren ihre Eltern. Ihr Vater war ein relativ bekannter Film- und Fernsehregisseur, inzwischen verstorben, und ihre Mutter hatte sich früher als Schauspielerin und Glamour-Girl einen Namen gemacht und es sogar zu einem Kurzauftritt in einem Bond-Film gebracht.
Neil hatte im Hintergrund »Five Live« an und zusätzlich aktiviert, dass er angepiept wurde, sowie irgendwas über Harriet oder Hattie Fox auf dem Newsticker einging. Obwohl die Medien bereits ihren Namen nannten, schien die Polizei ihre Identität noch nicht offiziell bestätigt zu haben. Neil fragte sich, wer wohl diesen undankbaren Job bekäme und ob Hatties Mutter noch lebte. Er rief einen seiner Informanten bei der Polizei an und plauderte eine Weile mit dem Mann, bevor er ihn überredete, ihm eine Kontaktperson bei der British Transport Police zu nennen. Anschließend rief Neil sofort die Nummer an und fühlte vor, wie viel er rauskriegen könnte. Der Mann, der Neil weder kannte noch von ihm gehört zu haben schien, war sehr zurückhaltend und wollte so gut wie nichts preisgeben. Der Tod einer »achtunddreißigjährigen Frau« wurde als Suizid behandelt, so viel schien klar, aber offiziell sagte man gar nichts, bis die richterliche Untersuchung abgeschlossen war. Die wiederum sollte binnen weniger Tage eröffnet werden, eine Anhörung allerdings erst in einigen Wochen stattfinden. Neil vermutete, dass sie dort auch Kates Zeugenaussage brauchten, und er hoffte sehr, sie würde es verkraften. Immerhin würde sie den ganzen Schrecken nach Wochen noch einmal durchleben müssen. Der Mann von British Transport bestätigte, dass Hatties Mutter noch lebte, aber dass sie auf zahnärztliche Aufzeichnungen zurückgreifen würden - zurückgreifen müssten -, um das Opfer letztgültig zu identifizieren. Und das war auch so ziemlich alles, was Neil aus ihm herausbekam.
In den Nachrichten brummte die Story. Offizielle Bestätigung hin, zahnmedizinischer Abgleich her, eine auch nur halbwegs bekannte Schauspielerin, die beim »Horror in der U-Bahn« ums Leben kam, lieferte spannenden Stoff für einen Tag ohne große Nachrichtenaufhänger. Man redete noch nicht von Suizid, obwohl Neil vermutete, dass es die Regenbogenpresse morgen tun würde. Sofern sich nicht in den nächsten paar Stunden eine andere große Sache ergab, war es die perfekte Titelstory für sie. Vorerst jedoch blieb es eine »Tragödie«: ein absurder Unfall, kein willentlicher Sprung. Und die Nachrichten über Kates Rolle sickerten infolge ihres Radiointerviews auch allmählich durch. »Grausiges Ende einer Mädchenfreundschaft: Radiomoderatorin wird Zeugin eines tragischen Todes«, war nur eine der Schlagzeilen, und Neil dachte flüchtig, wie sehr Kate sich über das Wort »Mädchenfreundschaft« ärgern würde. Eine Weile würde sich die Story halten, es gäbe einen
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