Irgendwann Holt Es Dich Ein
klassenlosen Stimme: »Da hättest du erst mal die Lady Jane Grey erleben müssen.«
»Wie meinst du das?«
»Hast du noch nie von der Schule gehört?«
»Doch, klar habe ich. In Oxford waren ja haufenweise Janeites.«
Kate hatte verbittert gelacht. »Janeites«, wiederholte sie beißend. »So wie ich. Ich bin auch eine Janeite. Überrascht?«
Natürlich war er überrascht. »Heiliger Himmel!«, hatte er gesagt und sie verdutzt angestarrt. Und dann, ehe er sich bremsen konnte, hatte er gefragt: »Wie kommt's, dass du nicht schnöselig bist?«
Kate hatte gelacht, und Neil verliebte sich in ihr Lachen. So einfach war das. In dem Moment, in dem er sie erstmals richtig lachen hörte, wusste er, dass er sie heiraten würde. Ihr Lachen war mädchenhaft und klar, glockenhell. Und gleichzeitig wurde ihr Gesicht außergewöhnlich schön. Grübchen erschienen auf ihren Wangen, das eine rechts von ihrem Mund, das andere weiter oben auf der linken Seite. Noch dazu errötete sie. »Das ist eine lange Geschichte, die ich dir vielleicht eines Tages erzähle.«
Das hatte sie jedoch nie getan, jedenfalls nicht in zusammenhängender Form, nicht die ganze Geschichte. Hier und da fielen ein paar Informationsbröckchen - dass sie ein Stipendium hatte, »großes Glück« gehabt hätte (was sie stets wie auswendig gelernt sagte, als wäre es ihr eingetrichtert worden), eine außergewöhnliche Chance bekommen hätte. Nie aber hatte sie ausführlich darüber gesprochen, und Neil hatte längst begriffen, dass er sie nicht drängen durfte. Nun jedoch war es an der Zeit. Kates mangelnde Offenheit, ihre fortwährende Vorsicht und Zurückhaltung waren ihrer Ehe nicht bekommen. Mehr denn je wollte Neil alles über Kates Zeit auf der Lady Jane Grey erfahren. Seine Wissbegier war geweckt, und er hatte das Gefühl, kurz davor zu sein, wenigstens eine Vorstellung von der Vergangenheit seiner Frau zu bekommen. Er wollte wissen, wie die Schule wirklich war, und vor allem interessierte ihn, warum eine wortgewandte, erfolgreiche Ex-Schülerin der Lady Jane so deprimiert gewesen war, dass sie sich auf eine denkbar entsetzliche Weise das Leben nahm.
FÜNF
Wie fühlt man sich, wenn man jemandem beim Sterben zusieht?«
Es war eine Männerstimme, eine ziemlich ausdruckslose, gewöhnliche Stimme, schwer einzuordnen, da sie nichts über Herkunft oder Bildungsstand verriet. Kate lauschte über ihre Kopfhörer, spielte abwesend mit dem Stift in ihrer Hand und blickte aus dem Studiofenster auf den wenig inspirierenden Lichtschacht und die gegenüberliegenden Fenster. Es war Montagmorgen, ihr erster Tag im Sender nach Hatties Tod, und ihre Gedanken waren nicht recht bei der Arbeit. Sie wäre beinahe überall lieber gewesen als im Studio, wo sie versuchen musste, ihre Zuhörer zu unterhalten. Kate öffnete den Mund, um die Frage zu wiederholen, was sie normalerweise bei Höreranrufen immer tat. So konnte sie sich auf den Anrufer einstellen und Zeit gewinnen, um eine Antwort zu formulieren. »Wie fühlt man sich ...«, begann sie, und erst jetzt, da sie zu sprechen begann, begriff sie richtig, was der Mann sie fragte.
»Wer spricht da?« Sie drehte sich mit dem Stuhl zum Mischpult mit den zahlreichen Computerbildschirmen um, als würden die ihr helfen, den Anrufer zu identifizieren. Ihre Stimme musste ruhig und professionell bleiben. Auf keinen Fall durfte sie ängstlich, schroff oder verwirrt klingen. Zunächst aber musste sie herausbekommen, ob der Anrufer wirklich interessiert oder nur ein Perversling war. Vor durchgeknallten Anrufern war sie stets auf der Hut und hatte mittlerweile eine Art sechsten Sinn für sie entwickelt. Es kam äußerst selten vor, dass Kate überhaupt einen Irren auf Sendung nahm, wissentlich geschah das nie. Trotzdem schaffte es alle Jubeljahre einer von ihnen, sich unter Kates Radarschirm hindurchzumogeln. Und nun fragte sie sich, ob dies einer der Fälle war. Ganz sicher konnte sie sich indes nicht sein, dass dieser Mann wirklich ein Irrer war. Daher war sie gewillt, es ihm zunächst einmal nicht zu unterstellen. Die Frage an sich war ja nicht direkt unangebracht, sagte sie sich. Mithin könnte der Mann durchaus ein ganz normaler Mensch mit einem normalen menschlichen Interesse daran sein, wie es jemandem erging, der mit ansehen musste, was sie mit angesehen hatte. Schließlich war Kate erst vor drei Tagen in den Radionachrichten gewesen und hatte berichtet, wie sie Hattie sterben sah. Vor ihren Zuhörern schien sie kein
Weitere Kostenlose Bücher