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Irgendwann Holt Es Dich Ein

Irgendwann Holt Es Dich Ein

Titel: Irgendwann Holt Es Dich Ein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Hill
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ausgestanden hatte - und welche Angst sie ihr immer noch einjagte.
     
    »Sind Sie nicht das Chandler-Mädchen?«
    Die Frau, die Kate auf dem Korridor ansprach, war älter und entsprach so auffallend dem Klischee der altjüngferlichen Schulmeisterin, dass Neil grinsen musste. Die tüdelige alte Schachtel verwechselte Kate offenbar mit jemand anderem. Nun ja, während ihrer Zeit an der Lady Jane hatte sie wahrscheinlich Tausende von Mädchen kommen und gehen sehen. Neil rechnete eigentlich damit, dass Kate die Lehrerin gereizt abwimmeln würde mit dem Hinweis: »Nein, mein Name war früher Kathryn Small.« Doch zu seiner Verwunderung verkrampfte sie die Schultern noch mehr, blickte zu Boden und sagte: »Ja, das bin ich. Das Chandler-Mädchen.«
    »Dachte ich mir's doch. Und sieh sich einer an, was aus Ihnen geworden ist! Lady Jane kann sehr stolz darauf sein, was Sie aus sich gemacht haben.«
    Neil wartete, bis die alte Jungfer außer Hörweite war, bevor er fragte: »War dein Mädchenname nicht eigentlich Small?«
    Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, ob es einen Teil in Kates Familiengeschichte gab, von dem er nichts wusste. Vielleicht hatte es mit ihrem verschollenen Vater zu tun, und sie hatte tatsächlich eine Zeit lang mit Nachnamen Chandler geheißen. Noch etwas, was sie ihm nie erzählt hatte. Sie kamen zu einem Klassenraum in dem Teil der Schule, der zum alten viktorianischen Kern gehören musste, wenn Neil sich nicht täuschte. Kate stieß die Tür auf und ging hinein, ehe sie antwortete: »Ja, war er.«
    »Aber dann hast du nie Chandler geheißen. Wolltest du die arme alte Frau bloß nicht vor den Kopf stoßen und hast ihr deshalb zugestimmt?«
    »Nein, nein«, erwiderte Kate, verzog den Mund und fuhr mit einem seltsamen Unterton fort: »So hat man mich hier genannt. Das Chandler-Mädchen. So hieß ich sieben Jahre lang; die schlimmsten sieben Jahre meines Lebens.«
    Sie hockte sich auf ein Schülerpult am Fenster, stellte die Füße auf den Stuhl und sah hinaus. Ihre Miene war wie versteinert. »Wie meinst du das?«, fragte Neil so sanft wie möglich. »Warum wurdest du das Chandler-Mädchen genannt?«
    Als sie sich wieder zu ihm wandte, war ihr Gesicht gerötet, ihre Augen blitzten vor Wut, und sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Erzähl es mir«, sagte Neil. »Ich möchte alles darüber wissen.«
    Kate seufzte, und Neil bemerkte, wie ihre Schultern nach vorn sackten. Dann schluckte sie, rieb sich mit den Händen übers Gesicht und sah wieder aus dem Fenster, während sie zu erzählen begann. »Da war diese Frau namens Angela Chandler, eine ehemalige Schülerin der Lady Jane Grey. In ihrem Testament bedachte sie die Schule mit einer sehr großzügigen Summe. Das Geld sollte einem Mädchen den Schulbesuch finanzieren. Ironischerweise hatte sie ihre Schulzeit so sehr genossen, dass sie diese Chance auch anderen geben wollte. Sie legte schriftlich fest, dass das Stipendium an ein - ich zitiere - ›Mädchen gehen soll, dessen gesellschaftliche Position einen Besuch der Lady Jane Grey sonst unmöglich macht‹.«
    »Ach du Schande.«
    Kate sah ihn an. »Ja, genau. Das bedeutete, die Schule musste ein Mädchen aus der Arbeiterschicht finden, dem sie das Stipendium geben konnte. Also gingen sie auf die Suche in örtlichen Grundschulen mit einem besonders hohen Anteil an sozial bedürftigen Kindern. Die Schulen sollten ihnen ihre leistungsstärksten Schülerinnen nennen. Dann folgten eine Prüfung, ein Vorstellungsgespräch und danach eine lange, zermürbende Wartezeit, und letztlich bekam ich den Platz angeboten. Seien wir ehrlich, ich war bestens geeignet: Sozialwohnung, alleinerziehende Mutter, gleichzeitig einigermaßen wortgewandt und vorzeigbar, fleißig und ziemlich klug. Kurzum: das perfekte Chandler-Mädchen.«
    »Und wie hast du dich dabei gefühlt?« Noch nie hatte Neil seine Frau so zynisch und verbittert erlebt. Nein, das stimmte nicht ganz. Er hatte sie durchaus schon einmal so gesehen, ein einziges Mal, nach ihrer dritten Fehlgeburt. Da hatte ihre Stimme genauso geklungen.
    »Wie ich mich gefühlt habe?«, wiederholte Kate seine Frage, wobei ein ironisches Lächeln ihre Lippen umspielte.
    Eine typische Journalistenfrage, schon klar; dennoch bereute Neil nicht, sie gestellt zu haben. »Ja, das würde ich gern wissen. Sei ehrlich, wie hast du dich gefühlt, als du hierherkamst?«
    Abermals wandte Kate den Kopf ab und starrte aus dem Fenster. Neil hatte den Eindruck, sie würde in ihre

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