Irgendwann Holt Es Dich Ein
Sie würden zusehen, wie ich herunterstürzte. Und dann würden sie vielleicht begreifen, wie grausam sie zu mir gewesen sind.«
»Schatz«, sagte er wieder. Für ihn war nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar, wie ein Kind so unglücklich, so unsagbar einsam sein konnte. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, er würde die junge Kate durch eine Art Zeittunnel sehen und könne rein gar nichts mehr tun, um ihr zu helfen, denn die tiefen Verletzungen waren ihr längst zugefügt worden. »Komm her, bitte. Ich möchte dich in die Arme nehmen.« Wie lächerlich unzureichend seine Worte klangen!
SIEBZEHN
Kate wäre damals gar nicht imstande gewesen, ihre Qualen zu beschreiben. Manche der weniger greifbaren, psychischen Aspekte hätte sie nicht einmal beweisen können. Sogar heute noch fiel es ihr schwer, sich mitzuteilen, selbst Neil gegenüber.
Sie saßen am frühen Abend in einem düsteren kleinen indischen Restaurant und teilten sich einen Korb voller Poppadum, dem typischen Fladenbrot, und Pickles. Die Teigfladen zu brechen und Chutney, Pickles sowie Zwiebeln draufzulöffeln hatte etwas Tröstliches, beinahe Religiöses, handelte es sich doch um ein vertrautes Ritual, das sie schon häufig gemeinsam mit Neil vollzogen hatte. Ihre Hände zitterten so gut wie gar nicht mehr, und sie fühlte sich beinahe wieder normal. Oben auf dem Schuldach hingegen hatten sie jene altbekannte Ohnmacht und Hilflosigkeit wieder eingeholt, die sie während der Jahre an der Schule erdrückt hatten.
Und nun, als sie versuchte, Einzelheiten zu schildern, die Streiche und die Quälereien zu ordnen, war es ihr praktisch unmöglich.
»Ich glaube, in den ersten paar Tagen habe ich es gar nicht richtig bemerkt. Da war ja eigentlich jede von uns neu an der Schule. Naja - nicht alle waren gleich neu. Etwa zwei Drittel der Mädchen kamen von der Lady-Jane-Grundschule in derselben Straße. Sie kannten sich untereinander schon, hatten ihre festen Rollen, waren mit den unausgesprochenen Regeln vertraut, mit der Hierarchie.«
Kate war an dem ersten Morgen in den Klassenraum gegangen und unsicher an der Tür stehen geblieben. Etwa die Hälfte der Mädchen war schon da. Einige saßen an ihren Plätzen, während die anderen - die Neuen, die nicht auf der Grundschule gewesen waren, wie Kate später erfuhr - vorn in einer Gruppe zusammenstanden. Die Lehrerin hatte versucht, die Plätze zu verteilen, wobei sie bemüht war, die neuen Mädchen jeweils mit welchen aus der längst eingeschworenen Gruppe zusammenzubringen. Aber das Mädchen, neben das sie Kate hatte setzen wollen, lehnte kurzerhand ab. Kate hatte in ihrem Co-op-Rock und dem viel zu großen Blazer dagestanden. (»Da wächst du noch rein«, hatte ihre Mutter gesagt. »Bei dem Preis will ich dir nicht gleich einen neuen kaufen müssen, wenn du einen Schub machst.«) Das Mädchen hatte sie von oben bis unten gemustert, dann die Lehrerin angeschaut und gesagt: »Aber, Miss, ich habe Susan schon versprochen, dass ich neben ihr sitze.«
Dieses Mädchen war Serena Lacey gewesen. Und sie hatte ihren Willen durchgesetzt, wie sie es in ihrer gesamten Schulzeit immer wieder schaffte. Kate wurde neben ein anderes neues Mädchen gesetzt, das makellos gekleidet war und wunderschöne Fingernägel hatte. Kate war sicher, dass sie blassrosa Nagellack trug. Sie hieß Charlotte - »Charlie« genannt. Nachdem sie sich vorgestellt hatten, fragte Charlie, was Kates »Leute« machten. Kate verstand die Frage nicht. Ihre Leute? Sie hatte gar keine Leute. Was sollte sie sagen? Charlie wurde genauer. »Deine Familie«, erklärte sie und schüttelte abfällig ihr langes honigblondes Haar nach hinten.
»Meine Mum arbeitet in einem Büro, in der Personalabteilung.« Kate hatte keine Ahnung, was die Personalabteilung tat, aber sie wusste, dass ihre Mutter sehr stolz war, als sie kürzlich vom Empfang in die Abteilung befördert worden war. »Ich arbeite später auch mal in einem Büro.«
»In einem Büro«, wiederholte Charlie mit einem komischen Tonfall, den Kate nicht verstand. »Und was ist mit deinem Vater?«
»Ich habe keinen.«
Kates Antworten lieferten die Grundlage für ein Schulhoflied zum Mitklatschen, das während der nächsten paar Jahre in unregelmäßigen Abständen erklang und umgeändert und erweitert wurde, je nachdem, welche neueste Waffe die Mädchen gegen Kate entdeckt hatten. Das Lied wurde zu einem festen Bestandteil von Kates Schulzeit. »Kaffryn Small« hieß es. Ein paar der Verse
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