Irgendwann Holt Es Dich Ein
dass dieser Ort ihr tatsächlich Angst machte.
Sie hatte ihn nur höchst ungern begleitet. Heute war »Tag der offenen Tür«, ein Samstagmorgen, an dem die Schule ihre Pforten für Eltern öffnete, die überlegten, ihre Töchter hier anzumelden. Als Neil vorgeschlagen hatte hinzufahren, hatte er zunächst angenommen, Kate widerstrebte bloß, dass sie sich als Eltern ausgeben sollten. Zugegeben, ein unsensibler Vorschlag, und entsprechend war Kate sehr still geworden. »Warum willst du da hin?«, hatte sie ihn schließlich kühl gefragt.
Manchmal wünschte Neil sich, dass Kate lieber wütend würde, als ihn mit Kälte zu strafen, denn mit Wut konnte er sehr viel besser umgehen. »Weil es mich interessiert. In letzter Zeit habe ich so viel über die Schule gelesen, dass ich sie in natura sehen will. Ich möchte ein Gefühl dafür bekommen, wie es dort war, wie sich die Schule wohl auf deine Freundinnen ausgewirkt hat. Du bist doch diejenige, die mich gebeten hat, zu recherchieren.«
»Serena war nicht meine Freundin.« Wieder hatte sie kühl und verschlossen gesprochen.
»Hör zu, es tut mir leid, wenn dir das so zusetzt. Ich bedaure, dass ich es überhaupt vorschlagen habe. Ich weiß, wie schwierig das für dich ist. Du willst denen nicht vorgaukeln, dass du eine Tochter hast, schon klar. Verzeih mir, Schatz. Ist schon okay. Mach dir keine Gedanken, es ist nicht wichtig. Wir müssen nicht hingehen.«
Einige Sekunden lang hatte sie gar nichts gesagt, und dann: »Doch, müssen wir.« Und dann hatte sie endlich wütend geklungen. »Selbstverständlich müssen wir hin. Dich beschäftigt etwas, was du unbedingt rausfinden willst, und du wirst keine Ruhe geben, ehe du nicht dort warst, also fahren wir hin. Bringen wir es hinter uns. Wir fahren morgen zur Lady Jane Grey und befriedigen deine Neugier.«
Und nun waren sie beide hier, und Neil konnte schon an Kates Schulterhaltung erkennen, dass sie auf dieser Schule nicht bloß unglücklich gewesen war. Sie hatte hier gelitten.
Kate erinnerte sich an die Schatten, die Verstecke, die Nischen, die verwinkelten Treppenabsätze, auf denen plötzlich ein Gesicht aus der Dunkelheit auftauchen konnte. Sie erinnerte sich an die endlos langen Umwege, die sie zwischen den Stunden zurücklegte, um den schlimmsten Mädchen aus dem Wege zu gehen, und daran, wie peinlich es war, wenn sie Kate doch auflauerten und sie sich vor Angst und Verzweiflung beinahe in die Hosen machte. »Sieh einer an, du hier?«, sagten sie dann. »Kommst du öfter hier vorbei? Das ist aber ein ziemlich großer Umweg zum Chemielabor!«
Sie entsann sich, wie die Mädchen ihres Jahrgangs in Zweier- und Dreiergruppen auf dem Schulhof ausgeschwärmt waren, sodass sie in den Pausen gar keine Chance hatte, ihnen zu entkommen. Sie standen in den Ecken, zeigten kichernd auf sie und machten ihr die Tage zur Hölle, wo sie nur konnten. Heute, als Erwachsene, war ihr klar, dass ihre Angst teilweise überzogen gewesen war, dass nicht jedes Mädchen ihres Jahrgangs ausschließlich von dem Gedanken angetrieben wurde, sie zu peinigen; trotzdem war es ihr damals so vorgekommen. Kate erinnerte sich noch sehr genau daran, wie sie gelähmt vor Angst in Umkleideräumen oder Toiletten ausharrte, wie sehr sie bemüht gewesen war, möglichst die gesamte Pause dort zuzubringen. Doch fast immer kam ein anderes Mädchen hereingerannt und fand sie, und dann liefen sie eine Lehrerin holen, die Kate hinaus »an die frische Luft« scheuchte. Bei Gott, sie hatte diese Schule gehasst - und sie hasste sie heute noch!
Doch Neil wusste das natürlich nicht. Woher auch? Sie hatte ihm nie von ihrer Zeit an der Lady Jane Grey erzählt. Sie hatte ihre Schulzeit vollkommen ausgespart, diesen riesigen, hässlichen Fleck in ihrer Vergangenheit. Schon der Gedanke an die Schule reichte, dass sie vor Wut und Elend errötete. Und jetzt war sie wieder hier. Es war ihr als einfachste Lösung erschienen, um Neils unzählige Fragen zu beantworten. Seine Neugier war geweckt, und das verstand Kate. Genau wie sie wollte er wissen, was mit Hattie und Serena passiert war. Neil war eben durch und durch Journalist, von dem Wunsch angetrieben, Geschehnissen Farbe zu verleihen und ein Gefühl für deren Hintergrund zu bekommen. Deshalb wollte er mehr Fakten über die Schule wissen, und so hatte Kate eingewilligt, ihn zu begleiten. Bislang war es ihr einigermaßen gelungen, Haltung zu bewahren. Niemand würde je erraten, welche Ängste sie an dieser Schule
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