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Irgendwann Holt Es Dich Ein

Irgendwann Holt Es Dich Ein

Titel: Irgendwann Holt Es Dich Ein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Hill
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Feature-Reihe wurde auf der Website der Stiftung archiviert, die den Preis ausschrieb. Jeder, der ein Beispiel für ihre journalistische Arbeit online hören wollte, würde ziemlich schnell diese Reihe finden. Wer ihren Namen googelte, stieß auch auf die Sendungen.
    Kate hatte ihre eigenen Erlebnisse in der Sendung mit keinem Wort erwähnt. Sie hatte nicht gesagt, dass sie selbst kinderlos war und warum. Dennoch war es vielleicht ihrem Tonfall oder ihrer Wortwahl zu entnehmen gewesen. Vielleicht konnte jemand, der bei ihr nach einem wunden Punkt suchte, nach irgendetwas, um sie zu quälen, an ihrer Stimme oder an der Art, wie sie die Leute befragte, hören, dass sie selbst betroffen war.

ZWANZIG
     
    Es gab eine bestimmte Gemütsverfassung, von der Kate geglaubt hatte, sie wäre ausschließlich Träumen vorbehalten - eine Form von Trance, in der man zugleich hyperaufmerksam und doch irgendwie benommen war, jedes Detail um sich herum wahrnahm, sich aber unfähig fühlte, etwas zu ändern, zu beeinflussen oder zu kontrollieren. Sie war in der U-Bahn-Station, zog ihre Oyster-Card durch den Prüfschlitz und glitt die Rolltreppe hinunter. Die neuen Werbebildschirme an der Wand links von ihr vervollständigten die traumähnliche Atmosphäre durch ihr Blinken, als sie an ihnen vorbeifuhr. Sie war auf dem Nachhauseweg, und sie hatte Angst. Dagegen konnte sie nichts tun, sie hatte keinerlei Kontrolle über ihre Gefühle.
    Kurz nachdem die Polizisten sie befragt hatten, verließ Kate den Sender. Ihr war klar, dass es wahrscheinlich falsch war, einfach nach Hause zu fahren. Angesichts des neuen Vermerks in ihrer Personalakte sollte man sie besser arbeiten sehen, und das möglichst viel und lange. Doch sie ertrug es nicht länger, an ihrem Schreibtisch zu sitzen. Sie hatte sich dabei ertappt, wie sie nervös an ihren Fingernägeln zupfte, zu verängstigt war, um ans Telefon zu gehen, als es klingelte, und nicht einmal in ihre E-Mails sehen konnte. Kate hatte sich eine Liste mit Dingen gemacht, die sie noch im Sender erledigen wollte - ein Interview nachbereiten, ein Hörerpreisrätsel planen -, und hatte sich eingeredet, sie würde beides noch vor ihrer morgigen Sendung fertig haben. Als sie Richard Bescheid sagte, dass sie nach Hause ging, schien er nicht im Mindesten verwundert oder besorgt. Und dann hatte sie sich ihren leuchtend grünen Mantel angezogen und war kühn aus dem Sender marschiert, so kühn jedenfalls, wie es ihre Verfassung erlaubte.
    Das bisschen Kühnheit hielt nicht lange vor. Nach wenigen Schritten schon rief sie Neil auf seinem Handy an. Sie sprach eine Nachricht auf seine Mailbox, dass er so bald wie möglich zu ihr nach Hause kommen solle. Ihr war klar, dass sie halb von Sinnen vor Angst klang. Im Moment, jetzt gerade, war die Angst stark und wurde stärker. Sie erreichte den Bahnsteig und stellte fest, dass sie wieder da war, diese intensive, verstörende Furcht, die sie auch am Tag nach Hatties Tod empfunden hatte.
    Kate musste den Kontakt zur Wand halten, indem sie mit den Fingern über die Kacheln strich. Sie brauchte das Gefühl, in Sicherheit zu sein, so weit weg von der Bahnsteigkante, wie es ging. Und so weit weg wie möglich von anderen Menschen. Also stellte sie sich ans äußerste Ende des Bahnsteigs, wo niemand sonst stand. Sie wollte keine Berührung, keinen Schubser oder Stoß riskieren. Im Geiste sah sie Hatties zerfetzten Leib vor sich. Jedes Mal, wenn sie blinzelte, kehrte das Bild zurück: das Blut, die Blutflecken vor ihren Augen, die verdrehten Gliedmaßen. Alles flackerte in Kates Sichtfeld wie eine der elektronischen Werbetafeln.
    Kate lehnte sich an die gekachelte Wand und fürchtete, ohnmächtig zu werden. Ihr war gleichzeitig heiß und kalt, und ihr fiel das Atmen schwer. War das Angst oder eine Panikattacke? Sie wollte hier raus. Am liebsten wäre sie über den Bahnsteig zurück und die Rolltreppe hinaufgerannt, raus auf die Straße, um frische Luft zu atmen, sich ein Taxi ranzuwinken und damit nach Hause zu fahren. Sie musste hier raus!
    Beruhige dich, sagte sie sich und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. Sie blickte sich um, mühte sich, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Es war noch früh am Nachmittag und entsprechend wenig los. Kate musterte die anderen Fahrgäste. Wer war es? Wer stellte eine Gefahr für sie dar? Konnte ihr jemand hier hinunter gefolgt sein? Hatte ihr jemand vor dem Sender aufgelauert?
    Sie würde die Person erkennen, wenn sie sie sah.

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