Irgendwann Holt Es Dich Ein
Es wäre jemand, den sie kannte oder gekannt hatte. Eine Frau, mit der sie zur Schule gegangen war, die in ihrem Alter war. Dessen war Kate sich sicher. Sie sah weiter nach vorn auf dem Bahnsteig, zu den Frauen, die dort standen und die ungefähr gleichaltrig waren, und fragte sich, ob sie eine von ihnen wiedererkennen würde. Da war eine elegant gekleidete Brünette, ruhig und selbstsicher, mit einem teuren Haarschnitt. Eine Rothaarige, unkonventionell mit klobigen braunen Lederstiefeln und einem Fransenrock. Und eine ungepflegte, erschöpfte Frau mit schmierigem blondem Haar und drei kleinen Kindern im Schlepptau. Keine von ihnen schien Kate zu beachten. Sie bemerkten sie anscheinend gar nicht. Und keine von ihnen erinnerte Kate an irgendjemanden, den sie mal gekannt hatte.
Andererseits hatte sie so vieles aus ihrer Schulzeit verdrängt. Seit Jahren dachte sie nicht mehr daran zurück. Andere Leute, Freunde von ihr, Kollegen, sie alle plapperten aufgeregt von Klassentreffen und Facebook und Friends Reunited, wo sie Kontakt zu Menschen aufnahmen, die sie aus der Schule kannten. Kate hatte es allein bei der Vorstellung geschaudert, und bisweilen kam es ihr wie eine seltsame anthropologische Eigenart vor. Sie fragte sich manchmal, ob sie demselben Stamm angehörte wie alle anderen.
Im Laufe der Jahre hatte Kate bewusst die meisten Gesichter der Mädchen verdrängt, mit denen sie zur Schule gegangen war. Vielleicht hatte sie viele ohnehin nie richtig wahrgenommen. Nur einige wenige waren ihr für immer im Gedächtnis geblieben: Hattie natürlich, Susan und Serena. Aber jetzt, nachdem sie wieder in der Lady Jane Grey gewesen war, tauchten weitere Gesichter und mit ihnen Erinnerungen auf. Sie erinnerte sich an ein blondes Mädchen mit hüftlangen Zöpfen, das bei den County-Meisterschaften im Tennis gespielt hatte, eine der Rädelsführerinnen beim Diebstahl des Turnanzugs. Dann war da noch ein sehr großes Mädchen, das meist die männliche Hauptrolle bei den Schultheateraufführungen spielte und bis zur Oberstufe einen auffallend krummen Rücken hatte, weil es sich stets kleiner machte. Dabei hatten die übrigen Mädchen es bis dahin sowieso größtenteils eingeholt. Merkwürdig, woran Kate sich noch erinnern konnte. Und da war noch eine Clare gewesen - oder Ruth oder Anne, wie immer sie hieß - jedenfalls ein schlichter, gewöhnlicher Name, passend zu dem gewöhnlichen Mädchen, das als Streberin galt. Eigentlich war sie sehr klug gewesen und hatte ebenfalls zu den Außenseitern gehört, wenn auch nicht ganz so verachtet wie Kate. Sie stammte aus einem neureichen Elternhaus, wenn Kate sich recht entsann. Komisch, dass ihr diese Dinge nun wieder einfielen. Im ersten Jahr hatte es einen oder zwei Momente gegeben, in denen sie einander zaghaft zulächelten, in denen sie beide geglaubt hatten, sie könnten vielleicht Freundinnen werden. War dieses Mädchen ebenfalls gemobbt worden? Kate war sich nicht sicher. Aber Clare oder Ruth oder Anne (oder hieß sie Jane?) war gerissener und gescheiter geworden; sie hatte begriffen, woher der Wind wehte. Und dann hatte sie sich ebenfalls in eine von Kates Peinigerinnen verwandelt, nicht zur schlimmsten zwar, doch sie hatte mitgemischt und ihre eigene Haut gerettet, indem sie zum Feind überlief.
Zu viele Gedanken. Mehr als Kate verkraften oder in ihrem Kopf ordnen konnte. Wie ferngesteuert stieg sie in die U-Bahn, setzte sich auf einen freien Platz, beide Füße fest auf dem Boden, blickte sich um und bemühte sich, die Fassung zu wahren. Ihr fiel die U-Bahn-Fahrt an dem Abend ein, als Hattie sich umbrachte. Dem Abend, als Hattie ermordet wurde. Sie dachte an die Kate, die mit ihren funkelnagelneuen Lederhandschuhen in jener Bahn gesessen hatte, genüsslich den Duft eingeatmet und an nichts anderes gedacht hatte als an ein warmes Schaumbad und ein Glas Rotwein. Sie wollte wieder diese Kate sein!
Als Neil nach Hause kam, war Kate auf dem Laufband. Er hatte ihre Nachricht auf der Mailbox gehört und war sofort hergefahren. Eigentlich hatte er erwartet, seine Frau in Tränen aufgelöst vorzufinden. Aber nein, sie strampelte auf dem dämlichen Laufband! Sie hatten so viele gute Vorsätze gehabt, als sie vor ein paar Jahren den kleinen Raum im Untergeschoss zum Mini-Fitnessraum ausbauten. Sie wollten gemeinsam trainieren, einer auf dem Laufband, der andere auf dem Rudergerät oder an den Gewichten. Das wollten sie jeden Abend nach der Arbeit tun, weil sie dabei zusammen sein und
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