Irgendwann Holt Es Dich Ein
mitgenommen wirkte. Ihr ohnehin schon blasses Gesicht war noch blasser, und die Schatten unter ihren Augen waren noch dunkler geworden.
Außerdem hatte sie abgenommen, und dabei konnte sie es sich gar nicht leisten, Gewicht zu verlieren. Keine Frage, Neil mochte sie schlank, aber zur Zeit schlackerte ihr die Hose um die Hüften. Wieso war ihm das vorher nicht aufgefallen? Prompt überkam ihn das dringende Verlangen, sie zu beschützen, vor allem Schrecklichen in Sicherheit zu bringen. Er stand vom Küchentisch auf, wo er halbherzig in der Lokalzeitung geblättert hatte, legte die Arme um Kate und zog sie nahe an sich. Seine Mutter zwinkerte ihm zufrieden zu, wohingegen Kate verwundert schien. »Was ist?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete er unsicher. »Ich wollte dir nur sagen, wie sehr ich dich liebe.«
»Jetzt werde nicht kitschig«, sagte sie, entwand sich ihm jedoch nicht.
»Weißt du was? Ich bleibe heute Abend hier. Ich habe keine Lust, mit den Jungs ins Pub zu gehen. Lieber möchte ich hier bei euch bleiben, und wir können alle zusammen fernsehen.« Es war schon Tradition, dass Neil am Abend vor Weihnachten ins Pub ging, um sich mit seinem Bruder Andy, der in der Nähe wohnte, und ein paar alten Schulfreunden zu treffen. Bei diesen Zusammenkünften wurde reichlich Bier getrunken. Wer wagte, etwas Alkoholfreies zu bestellen, wurde humorvoll-derbe als »alte Schwuchtel«, bezeichnet, und anschließend gingen alle zum Vindaloo-Essen beim hiesigen Inder. Neil freute sich mit jedem Jahr weniger auf den Abend, doch hier im Norden waren diese Treffen ein regelrechtes Männlichkeitsritual, mit dem man nicht ohne weiteres brach. Das rituelle Zechen, Sich-gegenseitig-als-schwul-Beschimpfen sowie das Wettrülpsen und -furzen kamen einer Wiedererweckung jener primitiven Seite in Neil gleich, die er nie vollständig abgelegt hatte. Dennoch fand er die Aussicht ungleich verlockender, neben Kate auf dem gemütlichen Sofa seiner Eltern zu sitzen, sinnfreies Fernsehen zu glotzen und nebenbei harmlos zu plaudern - meilenweit weg von all dem Mist, der in London passiert war.
Davon wollte Kate indes nichts hören. »So ein Blödsinn! Du magst doch deinen Männerabend, den darfst du nicht verpassen! Das gehört schließlich zu Weihnachten dazu! Die Welt würde aus den Fugen geraten, wenn du heute Abend nicht gehst. Außerdem willst du dir bestimmt nicht mit uns den Tanzwettbewerb anschauen. Dann wirst du bloß knatschig und mürrisch, und das verdirbt uns alles.«
Da hatte er es: Kate war diejenige, die am verbissensten auf den Traditionen beharrte; sie war diejenige, die Weihnachten immer bei seinen Eltern verbringen wollte, die nicht duldete, dass sich etwas änderte. Gott bewahre, dass irgendwer auf die Idee kam, die Geschenke vor dem Weihnachtsdinner und der Ansprache der Königin zu öffnen!
Am Weihnachtsmorgen wachte Kate früh auf und kuschelte sich an Neil, der schnarchend auf dem Rücken lag. Sie strich mit der Hand durch das Haar auf seiner Brust und schmiegte ihre Wange an seine Schulter. Sie hätte ihn gern geweckt und den Tag mit ihm zusammen begonnen, aber er grunzte bloß, drehte sich weg von ihr und schlief weiter.
Es war erst acht, doch in der Küche war Val schon mit den Vorbereitungen fürs Essen beschäftigt, während sie laut die Weihnachtslieder aus dem Radio mitsang. Kate begrüßte sie mit einem Wangenkuss und wünschte ihr frohe Weihnachten. Wie nicht anders erwartet, drückte Val ihr sofort ein Messer in die Hand und bat sie, sich um den Rosenkohl zu kümmern. Es war wohlig warm in der Küche, denn im Ofen schmorte längst der Truthahn, damit er um eins auch fertig war: Truthahnessen, Ansprache der Königin, Geschenke. Das war der verlässliche Ablauf in diesem Haus.
»Geht es dir gut, Katie, Liebes?«
Kate schnitt ein Kreuz in das letzte Rosenkohlröschen und warf es ins Sieb. »Ja, natürlich. Mir geht's bestens.«
»So siehst du nicht aus. Du wirkst müde, und du hast abgenommen.«
Kate merkte, wie sich ihre Schultern verkrampften.
Nun kam Val zu ihr und umarmte sie. »Du weißt, dass ich dir das nur sage, weil ich dich gern habe und weil es keiner sonst tut, nicht wahr?«
Kate nickte.
»Du kannst mir ruhig sagen, ich soll die Klappe halten, wenn du nicht darüber reden willst, Katie, aber ist es wieder passiert?«
Kate wusste, dass Val von einer weiteren Fehlgeburt sprach. Einen Moment überlegte sie, zu bejahen, denn damit wäre ihr Zustand viel leichter zu erklären. Damit
Weitere Kostenlose Bücher