Irgendwann Holt Es Dich Ein
könnten alle besser umgehen. Aber sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte einfach ein paar harte Wochen bei der Arbeit, sonst nichts. Vor Weihnachten wird es immer wieder hektisch.«
Val sah sie an, als glaubte sie ihr kein Wort. »Naja, Neil war in letzter Zeit ein bisschen komisch am Telefon. Irgendwie ausweichend. Stimmt bei euch beiden noch alles?«
Seltsamerweise hatte es Kate noch nie etwas ausgemacht, wenn Val ihr solche Fragen stellte. Bei anderen wäre sie schlagartig auf Distanz gegangen, aber bei Val? Nicht dass sie ihr alles erzählen würde, doch die Fragen störten sie nicht. Val fragte, weil sie ehrlich an Kates Wohlergehen interessiert war. Sie stellte die typischen Fragen einer Mutter; allerdings wäre Kates eigene Mutter nicht im Traum auf solche Fragen gekommen.
»Uns geht es gut, ehrlich. Wir sind bloß ein wenig gestresst. Du weißt ja, wie das ist.« Kate blieb vage.
Val sah nicht überzeugt aus. Nun jedoch wurde es unruhig. Die Türglocke bimmelte laut, und von draußen hörte man gedämpfte »Fröhliche Weihnachten!«-Rufe. Val wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging zur Haustür, während Kate in der Küche blieb und dort den Sturm abwartete.
»Tante Kate!« Neils siebenjähriger Neffe Jake kam ihr geradewegs in die Arme gelaufen. Sein großer Bruder Ash war weniger stürmisch. Er stand mit der typischen Reserviertheit eines Neunjährigen da. Dennoch sah Kate ihm an, dass er sich freute, sie zu sehen. Sie wuschelte Jake durchs Haar, küsste Ash auf die Wange und hätte beinahe gelacht, als er zusammenzuckte. »Na, was hat der Weihnachtsmann euch gebracht?«, fragte sie.
Eine Stunde später hatte auch Neil sich endlich nach unten gequält. Er litt unter seinem alljährlichen Weihnachtskater. Kate lag auf dem Teppich im Wohnzimmer und spielte Playstation mit den Jungen. Vor lauter Aufregung wurden die Stimmen der beiden ganz schrill, während sie Kate anfeuerten, mehr Punkte zu machen. Jake hockte im Schneidersitz neben ihr, den Krauskopf über seinen Controller gebeugt, und war mit offenem Mund vollkommen auf das Spiel konzentriert. Kate konnte seinen Kleine-Jungen-Atem riechen, der nach der heißen Schokolade vom Weihnachtsfrühstück duftete. Ash lag auf der anderen Seite neben Kate, so dicht, dass sie seine samtige Wange an ihrem Unterarm fühlte. Sie legte den Arm um ihn, drückte ihn und brachte ihn so aus seinem Spiel. »Tante Kate!«, stöhnte er vorwurfsvoll. »Jetzt bin ich deinetwegen raus!«
Neil saß eingeklemmt zwischen seinem Vater und seinem Bruder Andy auf dem Sofa, Andys Frau Bev hockte auf der Seitenlehne. Kate hatte sich in einen der beiden bequemen Sessel gegenüber gesetzt, seine Mutter in den anderen. Jake hockte auf Kates Armlehne, Ash vor seinem Vater auf dem Boden. Kate trug noch ihren rosa Papierhut aus dem Knallbonbon vom Mittagessen, und er hing ihr halb über das eine Auge. Sie hatte ein neues Kleid an, das sie sich vor ungefähr einem Monat gekauft hatte, vor den schrecklichen Ereignissen. Es war in leuchtenden Rot-, Gold- und Grüntönen gehalten, leicht folkloristisch im Stil, mit einem tiefen V-Ausschnitt und unter der Brust gerafft. Die Farben standen ihr und ließen ihre Augen leuchten, aber der Ausschnitt verdeutlichte, wie stark sie abgenommen hatte.
Überall auf dem Fußboden lag Geschenkpapier verstreut, denn sie steckten mitten im Auspacken. Den ganzen Nachmittag wurde aufgeregt gequietscht, obwohl fast alle erwachsen waren. Kate bestand darauf, dass jeweils nur einer auf einmal ein Geschenk auswickeln durfte, während die anderen zuschauten. Nach dem Sherry und dem deutschen Rheinwein, den Neils Eltern zum Truthahn ausschenkten, hatten sie einen kleinen Schwips. Bei Neil stellte sich nach dem reichlichen Essen und Trinken und seinem ohnehin schon vorhandenen Kater ein dumpfer Kopfschmerz ein. Und die Auseinandersetzung mit seinem Vater - Streit wäre zu viel gesagt - über das Thema Immigration (wie immer) verstärkte das Schädelbrummen noch. Dennoch hatte Neil das Gefühl, wenn er einfach hier sitzen bleiben, sich für den Rest des Tages nicht rühren und Kate beim Geschenkeauspacken zusehen könnte, wäre alles gut. Auf dem Boden vor ihm lag ein Haufen Geschenke, die er bekommen hatte. Es waren die üblichen Sachen: Socken, DVDs und ein Geschenkpaket mit ausgefallenen Biersorten. Dasselbe, was er jedes Jahr bekam. Alles war bestens, dieses Jahr, dieses Weihnachtsfest. Hier waren sie sicher, Kate und er. Ihnen konnte
Weitere Kostenlose Bücher