Irgendwann Holt Es Dich Ein
Parfums. Niemals L'Heure Bleue, denn das war Hatties Duft. Kate bekam einen anderen, ausgefallen und altmodisch, einen Duft, der nach Sex und alten Spielfilmen roch.
Und dann ab ins Taxi! Kate war nie mit dem Taxi gefahren, bevor sie Hattie kennenlernte. Kate beneidete - bestaunte - Hattie, weil die immer wusste, wie viel Trinkgeld man gab. Und unterwegs im Taxi erzählte Hattie von ihrer Woche: was sie gelesen, wen sie getroffen, wer sich hoffnungslos in sie verliebt hatte. Dann musste Kate ihr haarklein berichten, was sie gemacht hatte: von ihrem Sommerjob in der Fabrik, ihrem Samstagsjob in dem Laden. In jenem Sommer hatte Kate viel gearbeitet. Und Hattie hörte sich alles an, als wäre es das Interessanteste, was ihr je zu Ohren gekommen war.
Und immer gingen die Abende auf die gleiche Weise aus, immer: Kate lehnte an einer Wand oder hockte zusammengekrümmt in einem Sessel und beobachtete die anderen. Sie war die Zuschauerin. Manchmal wehrte sie grabschende Hände ab, manchmal nicht, aber immer beobachtete sie. Sie beobachtete, was Hattie machte, mit wem sie flirtete oder kokste, und wusste, dass ihre Freundin sie längst vergessen hatte. Den ganzen Abend über hielt Kate sich an zwei oder drei Drinks fest, weil sie nüchtern bleiben musste, um Hattie später heil nach Hause zu bringen. Und dann die Herausforderung: draußen auf der Straße in unbequemen Schuhen oder barfuß, auf der Jagd nach einem Taxi, das sie mitnahm.
Doch warum erinnerte sie sich an diesen einen Abend? Was war damals passiert? »Your Love is King« lief. Irgendwo auf der anderen Seite des Zimmers lachte ein Mädchen. Ah, jetzt wusste Kate wieder, wo Hattie hingegangen war. Susan und Serena waren auf der Party aufgetaucht. Vielleicht waren sie verabredet gewesen. Vielleicht war Kate bloß hier, um Hattie nachher heimzubringen. Die drei Freundinnen hatten sich euphorisch begrüßt, und wieder einmal war Kate am Rande stehengelassen worden.
In dem dunklen, verrauchten Zimmer lachte ein Mädchen. Nein, sie lachte nicht, oder? Sie weinte. Sie schrie. Ein Mädchen schrie. Da war ein Mann, und sie versuchte, ihn wegzustoßen, und Hattie, Serena und Susan lachten. Schauten zu und lachten. Alle schauten zu, und ein Mädchen weinte und schrie; und dann stürzten sie alle raus auf die Straße, und Serena sagte: »O Gott, war das nicht furchtbar von uns? Wir hätten etwas tun sollen.«
Und dann hatte der Abend wie üblich mit der Taxifahrt geendet. Susan und Serena mussten gegangen sein. Kate musste Hattie ins Taxi hieven und in Hatties Tasche nach Geld suchen. Sie schaute auf das Taxameter, nagte an ihrer Unterlippe und überlegte, wie viel Trinkgeld sie geben müsse. Und sie wünschte sich inständig, der Zähler würde bei einer runden Zahl stehen bleiben, damit sie leichter zehn Prozent Aufschlag ausrechnen konnte. Als wäre das die wichtigste Sache der Welt.
Anschließend hatte sie Hattie zu Bett gebracht, sich vorsichtig das Taftkleid und die Seidensandalen ausgezogen und ihre Jeans und ihr T-Shirt wieder an. Leise war sie aus dem Haus geschlichen, weil sie Hatties Eltern nicht wecken wollte. Auf ihrem Rad fuhr sie gegen drei, vier, fünf Uhr morgens quer durch Nordlondon. Kaltes, leeres Morgenlicht erhellte die stillen, schmutzigen Straßen. Ein Fuchs lief vor ihr über die Fahrbahn.
Und dann stand sie unter der Dusche, in dem makellos sauberen Bad der Sozialwohnung, die sie mit ihrer Mum bewohnte, in dem supergeputzten Badezimmer mit der zartrosa Badgarnitur aus den Siebzigern, deren Farbe an künstliche Gliedmaßen erinnerte. Unter dem heißen Duschstrahl schrubbte sie sich das Make-up, den Zigarettengeruch und den Schmutz von den Fußsohlen ab - und den Hass, den sie gegen sich selbst empfand.
Es war etwas geschehen. Etwas Furchtbares war geschehen. Ein Mädchen war angegriffen, vielleicht sogar vergewaltigt worden, und sie waren dabei gewesen, hatten zugesehen, hatten gelacht. Sollten sie dafür bestraft werden?
Silvester. Kate hatte immer schon gefunden, dass es der schlimmste, deprimierendste Abend des Jahres war. Der ganze Druck, zurück- und vorauszublicken und allem einen Sinn zu verleihen, Dinge in Zusammenhänge zu rücken, zu ordnen und zu berichtigen! Sie hatte ein Bad genommen, was sie meistens tat, wenn ihr nichts Besseres einfiel. Und sie hatte nach ihrem Handy gesehen, nach der üblichen SMS von Neil. Sie war in der Küche herumgewandert, hatte eine Weile vorm offenen Kühlschrank gestanden und überlegt, was sie
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