Irgendwann Holt Es Dich Ein
essen solle. Und während sie dort stand, war ihr etwas klar geworden: Sie fühlte sich besser. Zum ersten Mal seit einer Woche fühlte sie sich fast normal.
Womöglich lag es daran, dass sie endlich die Erinnerung zu packen bekommen hatte. Oder sie war es schlicht leid, sich merkwürdig zu fühlen. Wieder einmal entschied sie sich für Frühstücksflocken. Sie ging mit der gefüllten Schale ins Wohnzimmer, wo sie den Fernseher einschaltete. Es lief Jools Hollands Hootenanny. Neil liebte diese Musikshow, und sicher sah er sie jetzt in der kleinen Wohnung, die nur ein paar Kilometer entfernt war. Warum in aller Welt wollte sie von ihm getrennt sein? Sie vermisste Neil. Sie vermisste es, ihn in den Armen zu halten.
Neil schaute sich Jools Holland an, als sein Handy klingelte. Er war ein bisschen angetrunken und weinerlich. Trotzdem war er blitzschnell beim Telefon. Kates Nummer. Bitte, lass sie dran sein! »Hallo, Schatz«, sagte er.
»Neil, ich liebe dich. Lass uns das neue Jahr nicht getrennt anfangen!«
»Ich liebe dich auch.«
»Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich weggelaufen bin.«
Und dann konnte Kate beinahe hören, wie Neil wieder auf Reporter umschaltete. Wie typisch für ihn: stets auf der Hut, ständig bei der Arbeit. »Schatz, fällt dir vielleicht ein Mann ein, der einen Grund hätte, die Lady-Jane-Mädchen zu verfolgen? Ein alter Mann, vielleicht der Vater von irgendjemandem?«
Ihr wurde kalt. Sie dachte an das Mädchen, das geschrien hatte. Wie hatten ihre Eltern wohl aufgenommen, was mit ihr geschehen war?
FÜNFUNDZWANZIG
Hattie stürzte, wieder und wieder, fiel durch die stinkende Luft des U-Bahn-Tunnels. Der Tunnel war gigantisch groß, und Hattie fiel eine Ewigkeit lang, so langsam, dass Kate genügend Zeit hätte, sie zu fangen, könnte sie nur die Arme ausstrecken und sie packen. Aber sie konnte nicht, weil ein Mann - ein ältlicher Mann, ein alter Mann in Rot, ein alter Mann, der sich in den Weihnachtsmann verwandelte - neben Kate stand und ihr einen Sack mit Geschenken reichte. »Sie erinnern sich nicht an mich, stimmt's?«, fragte er. Und dann wurde Kate klar, dass der rote Anzug, den er trug, rot von Blut war. Zum dritten Mal in dieser Nacht wachte sie schweißgebadet auf.
»Schhh!«, machte Neil automatisch, denn eigentlich schlief er noch. Kate griff nach dem Wecker. Es war erst fünf Uhr neunzehn, also blieben ihr noch zwei Stunden, um ein wenig Schlaf zu bekommen. Sie drehte sich um, warf sich ein paarmal hin und her und gab es schließlich auf. Barfuß tapste sie ins Bad nebenan und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dabei sagte sie sich, dass heute alles gutgehen würde. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als bei der Zeugenbefragung zu erzählen, was sie gesehen hatte.
Während sie bei einem starken Kaffee in der Küche saß, erinnerte sie sich daran, was Neil ihr gesagt hatte: Bleib bei den Tatsachen, bei dem, was du an dem Abend wusstest. Verkompliziere die Dinge nicht. Ihre Aufgabe war die einer Zeugin, mehr nicht, das wusste sie. Sie war eine Zeugin der Geschehnisse an jenem Abend, als Hattie vor die U-Bahn gesprungen, gefallen oder gestoßen worden war. »Lass andere Leute von den übrigen Beweisen erzählen!«, hatte Neil gesagt. »Von den Briefen, dem Alkohol, den man ihr mit der Post geschickt hat. Das sollen andere erzählen. Dich wird man nicht danach fragen, und du solltest nicht über irgendwas reden, was du an dem Tag nicht wusstest und nicht gesehen hast. Fang nicht an zu spekulieren! Dazu ist eine solche Befragung nicht geeignet.«
Spekulieren. Das war es, was Neil und sie nach wie vor taten. Sie hatte ihm ihre Erinnerung an jene Party geschildert, und er hatte die Stirn gerunzelt. »Möglich wär's«, sagte er. »Wenn man bedenkt, dass eine deiner Freundinnen tatsächlich das Wort ›furchtbar‹ benutzt hat. Aber es kommt mir nicht überzeugend vor. Ich werde den Gedanken nicht los, dass es etwas mit Mobbing zu tun hat. Finde die Schwächen von jemandem und schlachte sie aus, bis der andere zusammenbricht. Das ist die klassische Methode von Schultyrannen.«
Er musste ihr Gesicht gesehen haben, denn er fügte gleich hinzu: »Natürlich belastet dich das. Und ich will es auch gar nicht abtun. Das muss eine scheußliche Erinnerung sein. Aber sie hängt nicht unbedingt mit allem anderen zusammen. Für mich passt sie nicht zu dem, was vor sich geht. Wie sollte ein älterer Mann, selbst wenn er der Vater des Mädchens von damals ist, eure Namen in
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