Irgendwann Holt Es Dich Ein
Menschen, die neugierig waren, weil der Todesfall einer Halbprominenten untersucht wurde.
Unten im Gerichtssaal beantwortete Kate weiter Fragen.
»Beschreiben Sie uns mit Ihren eigenen Worten, was Sie danach beobachtet haben!«
Neil sah, dass Kate für einen Moment die Augen schloss. Sie versetzte sich auf den Bahnsteig zurück, das wusste er. Und er wusste auch, wie schwierig es für sie war. Aber ihre Stimme war ruhig, als sie wieder sprach. »Ich sah Hattie dicht vor mir, und dann verlor ich sie kurzzeitig aus dem Blick. Die U-Bahn kam, und auf dem Bahnsteig war es sehr voll, sodass die Leute drängelten und schubsten. Und dann sah ich Hattie wieder. Ich sah ihren Kopf, er überragte die Menge. Da begriff ich, dass sie rückwärts fiel. Und dann prallte sie gegen die U-Bahn.«
Wieder hielt jemand die Luft an, und diesmal drehte Neil sich rascher nach dem Geräusch um. Er sah einen Mann, der sich vorbeugte, das Kinn auf die Hand stützte und höchst interessiert nach vorn schaute. Neil hatte beinahe den Eindruck, als genösse der Mann das alles. Er war älter, um die sechzig, fünfundsechzig vielleicht, hatte schütteres graues Haar, eine Brille und trug ein Tweedjackett über einem beigefarbenen Hemd. Ein durchschnittlicher, unauffälliger Mann. Ein sehr durchschnittlicher Mann, der eigentlich völlig normal aussah. Neil fielen Annas Worte wieder ein, als sie den Mann beschrieb, der sie über Kate ausgefragt hatte. Und schlagartig packte ihn Aufregung. Er drehte sich zu Kate, die den Mann direkt ansah, mit weit aufgerissenen Augen.
Dann blickte sie zu Neil herüber, und er bemerkte, dass sie kaum merklich nickte.
Dieses Mal konnte sie sich an ihn erinnern. Auf Hatties Trauerfeier hatte er sie angetippt und gefragt: »Kennen Sie mich noch?« Er hatte sich bemerkbar gemacht, aber sie hatte es nicht begriffen. Erst heute. Sie konnte ihn deutlich dort oben auf der Galerie sehen, während er sie aufmerksam beobachtete, und jetzt erkannte sie ihn wieder. Jemand, der mit der Lady Jane Grey zu tun hatte. Jemand, der gemobbt worden war.
Mr. Atkins war ein komischer kleiner Mann gewesen. Das waren genau die Worte, mit denen Charlie ihn beschrieben hatte: Charlie, das Mädchen, neben dem Kate früher gesessen hatte, mit den makellos manikürten, blassrosa Fingernägeln. »Ach, was für ein komischer kleiner Mann«, hatte sie gesagt und dabei wie eine Mutter geklungen.
Er war tatsächlich komisch, komisch im Sinne von seltsam. Sie hatten schon früher männliche Lehrkräfte an der Lady Jane gehabt. Und es gab bereits zwei Lehrer, als Mr. Atkins kam, der Geschichte unterrichten sollte. Aber die anderen beiden waren relativ jung und cool, beliebte und gute Lehrer. Ronald Atkins war vollkommen anders.
Er war ein kleines bisschen zu merkwürdig an einem Ort, an dem merkwürdig zu sein nicht toleriert wurde. Er war etwas zu klein, etwas zu tweedlastig gekleidet, etwas zu enthusiastisch in seinem Unterrichtsstil - übergenau, pedantisch. Außerdem hatte er ein paar seltsame Ticks und einen leichten Sprachfehler. Redete er zu schnell, pfiff es durch die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Der arme Mann hatte von Anfang an keine Chance gehabt.
»Ich hab gehört, dass er superklug sein soll«, sagte ein Mädchen, dessen Vater irgendein Professor war. »Angeblich ist er ein weltbekannter Fachmann für die Französische Revolution oder so.«
»Und ich habe gehört, dass er bei seiner letzten Stelle auf einer Jungenschule einen Nervenzusammenbruch hatte und dass er hergekommen ist, weil er glaubt, Mädchen zu unterrichten wäre leichter.« Das war Serena.
»Ich hab gehört, dass er noch bei seiner Mutter wohnt«, sagte eine von Serenas Ergebenen.
»Ich hingegen habe gehört, dass die Polizei ihn für einen stadtbekannten Exhibitionisten hält.« Das war Susan, grausam wie eh und je.
Alle lachten. Auch Kate hatte vielleicht gelacht. Wahrscheinlich sogar. Manchmal hatte sie mitgelacht, wenn der Spott jemand anderem galt, wenn mal nicht sie das Ziel des grausamen Humors war.
Zunächst wurde Mr. Atkins mit Kleinigkeiten gequält, die kaum auffielen. Kate jedenfalls hatte anfangs nichts mitbekommen. Was nicht weiter verwunderlich war, hatte sie doch nichts mit der Planung zu tun gehabt. Es waren nichtige Dinge: Zum Beispiel wurden mitten in der Stunde Fragen gestellt, die überhaupt nicht zum behandelten Thema passten. Serena etwa stellte eine sehr höfliche, süßlich vorgebrachte, detaillierte Frage zu Garibaldi, als
Weitere Kostenlose Bücher