Irgendwann Holt Es Dich Ein
Das tut mir so unendlich leid.«
Neil bemühte sich, ruhig und verständnisvoll zu bleiben. Er konnte sie schlecht fragen: »Wem denn?«, also verlegte er sich auf: »Erzählen Sie mir davon!«
»Ich war im Pub um die Ecke. Das ist schon ein paar Wochen her. Jedenfalls war da dieser Mann, ein älterer Herr, und er hat mich angesprochen. ›Arbeiten Sie nicht bei Warm FM?‹, hat er gefragt. Wir kamen ins Plaudern, und er erzählte mir, dass seine Tochter bei Warm FM arbeitet und dass sie Katherine heißt. Na ja, ich glaube, ich war ein bisschen angeheitert, denn als wir so redeten, schien er tatsächlich eine Menge über Kate zu wissen. Er fand es traurig, dass sie keine Kinder hat. Und ich glaube, da habe ich was von den Fehlgeburten gesagt. Ich meine, er wusste es irgendwie sowieso schon. Auf jeden Fall dachte ich das, aber er kann genauso gut wild spekuliert haben, damit ich mehr verrate. Ich habe mir vielleicht gedacht, dass es okay ist, weil er doch Kates Dad ist. Und am nächsten Tag wollte ich es ihr gleich erzählen. Sie wissen schon, so in der Richtung: ›Übrigens, ich habe deinen Dad gestern Abend getroffen.‹ Doch dann ist mir eingefallen, dass sie gar keinen Dad hat, dass er tot ist oder sie ihn zumindest gar nicht kennt oder so. Und mir war das Ganze so schrecklich peinlich, dass ich gar nichts gesagt habe und die Geschichte einfach vergessen wollte. Ich redete mir ein, dass er die Kathy aus dem Vertrieb gemeint hat und, na ja, dass ich im Grunde ja nichts Schlimmes gesagt hatte.«
Ein Mann? Anna wollte von ihm beruhigt werden, wofür Neil jedoch die Geduld fehlte. Er musste mehr wissen. »Dieser Mann, wie hat er ausgesehen?«
»Ach, das weiß ich nicht mehr. Ziemlich durchschnittlich. Er war älter, wie gesagt, ist ja auch klar, aber eigentlich sah er völlig normal aus.«
VIERUNDZWANZIG
W ir haben etwas Furchtbares getan. WIR haben etwas Furchtbares getan.
In Kates Hinterkopf war eine vage Erinnerung, an die sie einfach nicht herankam. Am liebsten wollte sie es auch gar nicht, aber sie musste trotzdem versuchen, sich zu erinnern. Die einzige Möglichkeit, diesen Albtraum zu beenden, war die, herauszufinden, wofür sie bestraft wurde. Sie hatte sich einreden wollen, dass die Belästigungen und Hatties und Serenas Tod nichts mit ihr zu tun hatten. Doch das stimmte nicht. So viel wusste sie inzwischen. Ihr war klar, dass sie genauso bestraft wurde wie Hattie, Serena und sogar Susan. Hatties Worte tauchten wieder und wieder auf, genau wie die Erinnerungen, die sich ihr immer wieder entzogen. Kate bekam sie nicht zu packen, und erst recht konnte sie nicht aufhören, an sie zu denken. Sie hatte das Gefühl, langsam wahnsinnig zu werden. Sie konnte nicht schlafen. Sie war allein im Haus, weil sie allein sein musste, um ungestört nachdenken zu können - ohne Neils unablässige Fragen und sein ewiges Nachhaken. Nur war auch alles lauter und wirrer, solange sie allein war. Bilder liefen in ihrem Kopf ab, und Erinnerungsfetzen tauchten auf, die zu flüchtig waren, um sie genauer zu bestimmen. Kate wusste lediglich, dass es etwas Schreckliches war und mit Hattie und ihr zusammenhing. Wahrscheinlich war sie drauf und dran, den Verstand zu verlieren.
Seit ungefähr zwei Tagen war sie nun zu Hause, so schien es Kate jedenfalls. Die meiste Zeit hatte sie im Pyjama verbracht, zusammengerollt auf dem Sofa, sich von alten Filmen zu blöden Quiz-Shows durchgezappt und zwischendurch Frühstücksflocken oder Toast gegessen. Natürlich hätte sie bei der Arbeit auftauchen oder wenigstens anrufen und sich krankmelden sollen. Dann hätte sie allerdings mit jemandem sprechen müssen, und das brachte sie nicht über sich.
Neil schickte ihr hartnäckig SMS-Botschaften. Alle paar Stunden erklang der Piepton, der eine neue Nachricht ankündigte, in der er ihr schrieb, dass er sie liebe und an sie denke. Wie Botschaften aus einer anderen Welt. Kate fühlte sich noch nicht einmal erstickt von seiner Aufmerksamkeit, wie sie es sonst bisweilen tat. Alles schien viel zu weit weg. Sie müsste sich bei Neil melden und ihm sagen, dass es ihr gutging. Aber es ging ihr nicht gut. Es ging ihr alles andere als gut. Sie wurde allmählich verrückt, dessen war sie sich sicher.
Die verschwommenen Bilder kehrten zurück. Sie trug eines von Hatties Fünfzigerjahrekleidern. Beinahe meinte sie das Taftknistern zu hören. Oder war das der Taftrock aus der Kostümkammer der Schule? Ihre Erinnerungen verliefen ineinander. Nein, sie
Weitere Kostenlose Bücher